Maren Donix
Das Bild zeigt ein etwa zehnjähriges Mädchen, das sich an die Mauer eines Gebäudes lehnt. Die große, hölzerne Tür hinter dem Kind ist schmucklos und mit einem schlichten Griff versehen. Diese Elemente und das angeschnittene, kleine Fenster rechts im Bild legen die Vermutung nahe, dass das Kind in der steinernen Türlaibung eines gutshöflichen Stalles steht. Die Tür im Hintergrund ist geöffnet, ermöglicht dem Betrachter aber lediglich den Blick in eine ungewisse Dunkelheit. Das Kind scheint gerade aus dem dunklen, kühlen Stall getreten zu sein und hält seinen Arm schützend über die Augen, um sich an das helle Sonnenlicht zu gewöhnen. Es trägt ein Kopftuch und eine Schürze, die es seitlich nach oben in den Bund des Rockes gesteckt hat. Außerdem ist es mit einem knielangen, braunen Rock und einem orangefarbenen, schlichten Oberteil bekleidet. Links neben dem Mädchen stehen ein Eimer und eine Schaufel, welche, angelehnt an der anderen Seite der Mauer, ebenso wie das pausierende Kind von getaner Arbeit erzählen. Kompositorisch korrespondieren diese beiden Elemente miteinander, ergeben sich doch durch das Kind einerseits und den Besenstiel anderseits zwei leicht gegenläufige Diagonalen. Ansonsten ist das Bild durch vertikale Elemente geprägt. In den Rhythmus von Türlaibung, Türblatt und Mauervorsprung ist das Mädchen in seiner leicht geneigten Aufrechten eingebunden und wird darin gehalten. Michaelis untersucht mit seiner Malerei das unmittelbare Umfeld des Mädchens und macht es dem Betrachter möglich, eine vorangegangene Handlung zu assoziieren.
Der Rhythmus, den der Künstler mittels der Senkrechten im Bild schuf, findet sich auch in der Tiefe des Raumes. Durch Mauersockel, geschlossenem Türflügel und dem Inneren des Hauses entsteht eine Räumlichkeit, die aus mindestens diesen drei Ebenen besteht. Die spannungsvolle Kombination von Flächen und Linien lässt sich auch im Körper des Mädchens finden. Hier ergeben Rocksaum, Rockbund, der Saum der hochgenommenen Schürze, die Linie der Schultern und der waagerecht über den Augen liegende Arm des Kindes eine Komposition aus gegenläufigen, sich ausgleichenden Linien, die auch die dadurch entstehenden Flächen rhythmisieren. Der Körper des Kindes erscheint in dieser Weise als lebendiger Organismus aus sich auftürmenden Einzelflächen, die durch die dunklen Füße des Mädchens stabilisiert werden.
Der Gesichtsausdruck des Mädchens und sein Blick bleiben eine Andeutung. Die Augen des Kindes werden vom Schatten des linken Armes überdeckt, so dass ein direkter Blickkontakt zum Betrachter verhindert wird. Michaelis schuf mit einem weichen und lockeren Pinselduktus das Bild ganz aus der Farbe heraus. Die einzelnen Gegenstände ergeben sich durch mit schmalem Pinsel fein modellierte Stellen oder mit dem Spachtel zusammengezogene Flächen. Die Arbeitstechnik Michaelis´ erweist sich in Hinsicht des Farbauftrages als besonders differenziert und vielfältig. So trug er die Farbe recht weich und pastos im Bereich des Tuches auf, in dem Bereich der Mauergestaltung schabte er die Farbe von der Leinwand fast restlos wieder herunter, so dass die textile Struktur sichtbar wurde. Dabei ergeben sich weniger klare Konturen, sondern eher ineinander greifende Farbmischungen, die vom Künstler auf Fernwirkung hin konzipiert wurden. Ist das Gesicht des Kindes beispielsweise aus naher Sicht ein undeutliches Arrangement von verschiedenen Farbflecken, entfaltet sich der Eindruck eines verschatteten Gesichtes erst überzeugend durch einen gewissen Abstand zum Bild. Dieser lockere und spielerische Umgang mit der Farbe, der ganz unverkrampft und ohne zwanghafte Vorgabe das Motiv des Bildes erschafft, erinnert an impressionistische Malerei[i]. Auch in Michalis‘ Bild wird durch ein lebendiges, aus der Farbe heraus gestaltetes Spiel mit Licht und Schatten eine spezifische Atmosphäre geschaffen, die die Wirkung des Bildes ausmacht. Dazu arbeitete der Maler mit dem Kontrast zwischen Schatten und Licht und vergrößerte diesen so weit wie möglich. Die Mauer in der linken Bildhälfte, der Oberkörper des Mädchens und ein Teil ihres Gesichtes sind von einem hellen und warmen Sonnenlicht angestrahlt. Die Intensität des Lichtes wird beispielsweise durch den Schlagschatten des Besenstieles verdeutlicht. Die Wärme suggeriert Michaelis dem Betrachter mit vorwiegend warmen, rötlichen und rotbraunen Tönen, die er in diesem Bereich einsetzt. Die rechte Bildhälfte, die tiefenräumlich weiter hinten liegt, wird vom Licht der Sonne nicht erreicht. Kontrastiv zu den warmen Rottönen setzte Michaelis an dieser Stelle ein Grün ein, das er mit einem bläulichen Ton zu einer kühlen Farbe abmischte. Eine zarte Resonanz auf das Orangerot im vorderen Teil des Bildes brachte Michaelis mit einem schmalen Streifen Braunorange in der Tiefe des Innenraums. Die Farbgestaltung und die Lichtführung im Bild bedingen einander und steigern den Kontrast zwischen Schatten und Licht, Kühle und Wärme. Durch den quer über das Gesicht des Kindes gehenden Schattenstreifen und die Konfrontation dieser beiden Elemente auf kleinster Fläche erhält das Gesicht des Kindes auch in dieser Hinsicht einen besonderen Stellenwert und ist als Höhepunkt der Komposition zu bezeichnen.
Das Bild ‚Mädchen aus Rammenau‘ ist intim, da es Einblick in das ureigenste Milieu des Kindes gewährt. Die Darstellung der Umgebung gehört zur Charakterisierung des Mädchens und seiner Lebensumstände. Der wesentliche Identifikationsmoment eines Menschen, sein Gesicht, ist durch die Darstellung verschattet und nicht klar erkennbar, vielmehr wird der Ort identitätsstiftend. Die fehlende Einbindung in einen größeren, architektonischen Zusammenhang verstärkt die fokussierende Betrachtungsweise, verringert die Vielfalt an Motiven und ermöglicht eine Steigerung der Atmosphäre auf Kosten des Details. Deswegen bleibt die Motivik des Gemäldes teilweise unklar, die Gegenstände in ihrer Funktion nur angedeutet, der Hintergrund der Darstellung so unergründlich und das Gesicht des Mädchens dem Betrachter verborgen. Denn es geht dem Künstler nicht darum, eine Reportage zu den Lebensumständen eines Mädchens aus Rammenau zu malen, vielmehr vermittelt er mit seinem Bild eine Stimmung, die im Betrachter ein vertrauliches, nahes Beisammensein des Künstlers mit dem Kind evoziert. Dieser Eindruck geht im Prozess der Kunstrezeption auf den Betrachter über und mutet voyeuristisch an. Durch fehlenden direkten Blickkontakt mit dem Motiv bleibt offen, ob das Kind des Künstlers gewahr geworden ist. Hierin, und nicht im direkten Austausch zwischen Betrachter und Dargestellter, liegt der intime Ausdruck des Werkes.
[i] Hier im Besonderen die Künstler des sogenannten Intimismus Pierre Bonnard und Èdouard Vuillard.
Zitierempfehlung: Maren Donix: Bilddossier zu "Mädchen aus Rammenau II" (1960) von Paul Michaelis, August 2012. In: Kunst in der DDR, URL: <https://bildatlas-ddr-kunst.de/knowledge/640>