Kathleen Schröter
© VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Ende der 1960er Jahre begannen Künstler der DDR, vermehrt auf die antike Mythologie und die christliche Ikonographie zurückzugreifen, um in sinnbildhaften Gleichnissen gesellschaftliche Verhältnisse der Gegenwart zu thematisieren. In den Arbeiten des Leipziger Malers und Grafikers Wolfgang Mattheuer wird die Figur des Sisyphos mehrfach zur Symbolgestalt für zeitgenössische Konflikte. Dem Mythos zufolge hatte Sisyphos sein Unwesen mit den Göttern getrieben und ihren Zorn auf sich geladen. Zur Strafe wurde er in der Unterwelt dazu verurteilt, einen schweren Felsblock einen steilen Hang hinaufzuwälzen. Doch immer als er glaubte, er habe den Gipfel erreicht, begann der Stein, den Berg wieder herunter zu rollen, Sisyphos musste erneut mit der mühseligen Arbeit beginnen. Noch heute wird ganz und gar sinnlose und trotz aller Mühen nicht zu bewältigende Arbeit als „Sisyphusarbeit“ bezeichnet.
In den Bildern Mattheuers fügt sich Sisyphos jedoch nicht länger seinem Los. Das erste Gemälde zeigt ihn auf der Flucht: Ein junger Mann in moderner Arbeitskleidung läuft mit kraftvollen Schritten einen Berg ins Tal hinab, dicht gefolgt von der mächtigen Felskugel. Etwas abseits und mit abgewandtem Körper steht regungslos eine Figur, die sich eine Schafsmaske vor das Gesicht hält und sich dem Geschehen entzieht.
In einem zweiten Gemälde hat Sisyphos die Oberhand über den Stein gewonnen: Er hat den Felsbrocken fest in einem Ast eingekeilt, bearbeitet ihn mit Hammer und Meißel und wird so gleichsam zum Künstler. Seine Kleidung steht dabei in einem merkwürdigen Gegensatz zu seiner handwerklichen Tätigkeit. Sisyphos befreit sich von der sinnentleerten Arbeit und gibt dem Stein eine Funktion, indem er ihn in der mit Schrott übersäten Landschaft zu der symbolträchtigen Form einer geballten Faust umarbeitet. Er zeigt mit diesem Zeichen seine Bereitschaft zum Widerstand und seinen Wunsch nach Veränderung an. Anders als bei seiner Flucht schauen ihm drei Männer unverstellt, wenn auch tatenlos dabei zu. Möglicherweise sind es Industriearbeiter, die aus der nahegelegenen Fabrik kommen, deren rauchenden Schlote im Bildhintergrund zu sehen sind.
Mattheuer, der über zwei Jahrzehnte an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst lehrte, erweiterte die Bildsprache des in der DDR politisch eingeforderten Sozialistischen Realismus. Seine klar gegliederten, durch eine vereinfachte Formsprache gekennzeichneten Arbeiten wurden auch als „Gedankenbilder“ oder „Problembilder“ bezeichnet. Sie entziehen sich einer eindeutigen Lesbarkeit und werfen mehr Fragen auf als dass sie Antworten geben. Es bleibt dem Betrachter selbst überlassen, welche gesellschaftlichen Zustände er mit einer sinnlosen Sisyphusarbeit gleichsetzt. Mattheuer bezog den Mythos in einem Zeitungsinterview ganz im Sinne der Kulturfunktionäre der DDR auf die vom Menschen entfremdete Arbeit im marxschen Sinne, also auf die kapitalistische Produktionsweise, der ein humaner Sozialismus entgegengesetzt werden müsse. Wesentlich öfter wurden die Bilder Mattheuers jedoch auch schon zur Entstehungszeit als verschlüsselte Kritik an den Verhältnissen in der DDR gelesen. Doch wen oder was bezeichnet dann der Stein, der sich einer produktiven Beschäftigung entgegenstellt? Warum möchte der Mensch hinter der Maske, der Zeuge des Fluchtversuches wird, unerkannt bleiben? Und wird es Sisyphos gelingen, der ihm auferlegten Strafe zu entkommen? Wird er etwas an den Verhältnissen ändern und seine Zuschauer zum Mitmachen bewegen können?
Mattheuer war überzeugter Kommunist, er stellte den Sozialismus nicht in Frage. Aber er zeigte in seinen Bildern immer wieder kritikwürdige menschliche Verhaltensweisen und gesellschaftliche Zustände auf, die es zu benennen und damit aber auch zu überwinden galt. Darin unterschied sich Mattheuer von dem in seinen Kunstwerken immer wiederkehrenden Menschen, der seine Meinung bequem hinter einer lächelnden Schafsmaske versteckt. […]
Quelle: Kathleen Schröter: Wolfgang Mattheuer, Die Flucht des Sisyphos (1972) und Sisyphos behaut den Stein (1974). In: Karin Kolb, Gilbert Lupfer, Martin Roth (Hrsg.): Zukunft seit 1560. Von der Kunstkammer zu den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Berlin München 2010, S. 264-265.