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Maren Donix

Rudolf Nehmer, Gundula im Winter (1967)

 

Das Bild zeigt die Tochter des Künstlers[i] im Alter von etwa elf Jahren in einer Schneelandschaft. Das Kind ist an den vorderen Bildrand und auf die rechte Seite des Formates gerückt. Es erscheint im Brustbild, so dass der Blick auf die Landschaft im Hintergrund frei wird. Gundulaträgt einen gelben Pullover, eine dunkle Mütze und einen Handschuh. Die Gestik der Hände lässt vermuten, dass sieim Begriff ist, den zweiten Handschuh auszuziehen. Das Mädchenschaut sinnend, am Betrachter vorbei, in die Ferne.

Die leicht hügelige Landschaft ist als eine diagonal durch das Bild verlaufende Fläche gestaltet. Die Silhouette der Berglandschaft im Hintergrund betont diese Komposition, indem sie die Diagonale aufnimmt. Der darüber liegende Himmel ist in einer gleichmäßigen, graubraun-violetten Farbigkeit gestaltet und suggeriert einen dichten, schneeverhangenen Himmel. Der Horizont liegt im oberen Drittel des Bildes, vermittelt so den Eindruck einer hoch oben gelegenen Landschaft und evoziert eine leichte Untersicht auf das Motiv. Die nach links ansteigende Diagonale findet ihre Entsprechung in den Schattenwürfen der Bäume. Gundulaselbst ist kompositorisch in die Form eines gleichseitigen Dreiecks eingeschrieben, welches durch die Handhaltung in kleinerem Maßstab wiederholt wird. Neben der diagonalen Komposition weist das Bild auch senkrechte Elemente auf. So sind die Baumstämme vertikale Linien, die im Kontrast zur weißen Fläche einen grafischen Eindruck erwecken. Diese vertikalen kompositorischen Elemente geben dem Werk Stabilität, die aber nicht absolut, sondern veränderbar ist. Die vertikalen Strukturen bremsen die Dynamik der Diagonale und lassen die Komposition insgesamt ruhig und ausgewogen erscheinen.

Mit der plastisch durchgeformten Ausgestaltung des Kinderkörpers und der reduzierten, kulissenhaften Landschaftsgestaltung konzentrierte sich Rudolf Nehmer in diesem Gemälde auf das spannungsvolle Verhältnis von Plastizität und Linearität. Der Künstler beschränkte sich auf einfache, klare Grundformen, die in ihrer Schlichtheit jedes zusätzlichen Details entbehren. Dennoch spielte die malerische Problemstellung der haptischen Qualität von Stofflichkeit für Nehmer eine Rolle. So scheinen der Handschuh des Kindes und die Mütze durch getupfte Pinselführung aus einem flauschigen, samtigen Material, die Haare des Kindes fest und glatt und der Pullover aus einem weichen, aber dichten Gewebe zu sein. Für Haut, Nägel, Augen und Mund des Kindes reduzierte der Künstler den Pinselduktus, so dass eine ebene und glatte Oberflächengestaltung möglich wurde. Rudolf Nehmer nutzte die Ölfarbe deckend und arbeitete mit Farbtönen, die er auf der Palette in ausreichender Menge zu einem Farbton abmischte. So erscheint der Himmel als homogene Fläche, die nur durch Überschneidung der einzelnen Bildelemente als solcher erkennbar wird.

Die Lichtqualität im Bild ist fahl und korrespondiert mit der Kälte der dargestellten Landschaft. Die Farbigkeit des Bildes beschränkt sich auf verschiedene Grau- und Weißtöne sowie Nuancen von Gelb, welche in der Gestaltung Gundulaszum Einsatz kommen. Die für Lippen und Hautpartien verwendeten Rottöne im Gemälde haben eine kühle Wirkung, so dass die Farbpalette monochrom wirkt. Die klare Wirkung des Bildes kommt auch dadurch zustande, dass Nehmer grafische Gestaltungsmittel wie Linie, Schattierungen und Hell-Dunkelkontraste intensiv in die Bildgestaltung einbrachte.

‚Gundula im Winter‘ist ein Bild von großer Ruhe und innerer Stille. Es ist ein Beispiel dafür, dass der Schwerpunkt in Rudolf Nehmers Œuvre auf sinnende Themen nicht nur in seinen Stillleben, sondern auch in seiner Porträtmalerei deutlich wird. Das Mädchen wird in einer unspektakulären Landschaft, frei von jedem Präsentationszwang dargestellt. Nicht nur das Kind ist in einer ruhenden Position mit träumerischem Gesichtsausdruck gezeigt – besonders die Landschaft ist zu einer Kulisse erstarrt. Die Bäume ergeben mit ihren Schatten filigrane Strukturen. Im Gegensatz zur realistischen Gestaltung des Kindes wirkt die Landschaft im Hintergrund durch die teilweise abstrahierten, stark vereinfachten Formen unwirklich.

Durch ihre stark vorgerückte Position scheint Gunduladieser Landschaft enthoben, obwohl sie strukturell in sie eingebunden ist. Das Mädchen scheint ihre Umgebung nicht als kalt zu empfinden. Gundulas Gesicht wird seitlich durch ihre dichten, blonden Haare ein wenig geschützt. Sie sind exakt und scharfkantig zu einer schulterlangen Pagenfrisur geschnitten und rahmen das Gesicht in auffallender Kontur. Durch die großen, weit geöffneten Augen wirkt ihr Antlitz dennoch auch zart und verletzlich. Nehmer hat seiner Tochter einen sinnenden, ernsten Ausdruck gegeben. Sie ist mit ihren Gedanken weit abgeschweift und schaut in die Ferne, scheint nichts Konkretes zu fixieren. Nichts in ihrer Umgebung scheint ihr Angst zu machen oder fremd zu sein.

Rudolf Nehmer konfrontiert den Betrachter mit seiner Tochter, gibt dem Motiv aber nicht die Aussage einer aktiven Begegnung mit dem Rezipienten. Der Künstler zeigt dem Betrachter das Mädchen mit Offenheit, aber er präsentiert sie nicht. Vielmehr entrückt er die kindliche Erscheinung in eine melancholische, tiefere Ebene, die seine persönlichen Empfindungen als Vater gegenüber seiner Tochter ausdrücken mögen. Anders als bei ‚Peter im Tierpark‘, in dem Hakenbeck durchaus motivisch sehr ähnlich arbeitet, entsteht der Eindruck von Intimität hier nicht durch eine direkte Ansprache an den Betrachter. Dieser nimmt nämlich keinen unmittelbaren Kontakt mit dem Mädchen auf, wird aber durch die frontale Darstellung mit ihrer Eigenheit berührt. Der Künstler selbst, mit seiner Sicht auf die Dinge, tritt über das Motiv offensichtlicher als bei ‚Peter‘ mit dem Rezipienten in Kommunikation. Verschwindet bei ‚Peter im Tierpark‘der Künstler ganz hinter der Monumentalität des Motives und scheint dort das Kind selbst sprechend zu werden, bleibt in dem Werk von Rudolf Nehmer auch bei intimer Nahsicht der Künstler und das Nachsinnen über seine Intention ein wesentlicher Bestandteil der Rezeption dieses Gemäldes. Um diese Wirkung zu erzielen, nutzte Nehmer die unmittelbare Aussage der verschneiten Landschaft und verwendete sie für seine metaphorische Bildsprache: Die Natur und Gundularuhen in sich. Tief unter der Schneedecke jedoch, und in der Seele des Mädchens, entsteht eine Bewegung, ein Reifen, welches bei andauernder Entwicklung zum Aufbruch werden kann.

Anmerkung

[i] Nach Kontaktaufnahme in einem Brief vom 01.06.2010 durch Gundula Voigt, der Tochter des Künstlers, bestätigt. Im folgenden Text ‚Gundula‘ genannt.

Zitierempfehlung: Maren Donix : Bilddossier zu "Gundula im Winter" (1967) von Rudolf Nehmer, August 2012. In: Kunst in der DDR, URL: <https://bildatlas-ddr-kunst.de/knowledge/637>

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