Anna Malkiewicz
Die bildende Kunst war eine wichtige Stütze der an der Sowjetunion orientierten Politik im Ostblock. Sie hatte für den Aufbau eines neuen, sozialistischen Staates zu werben und auf die Bürger motivierend zu wirken. Ende der vierziger Jahre erschien in der bildenden Kunst und Literatur in der Volksrepublik Polen und der DDR eine neue Richtung, die „von oben“, von den Kulturabteilungen der Parteien (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei und Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) aus propagiert wurde: der sozialistische Realismus. Dabei ist man sich nicht klar, ob der Sozrealismus als Richtung, Strömung, Tendenz, Methode oder gar Stil in der Kunst bezeichnet werden sollte.
Er hat sich nicht als Folge einer Kunstrichtung herausgebildet, obwohl seine Themen und realistische Darstellungsweise oft Früchte künstlerischer Versuche derjenigen Künstler waren, die – im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit dem Glauben an die Zukunft des Sozialismus – eine neue Kunst forderten. In den Ostblock wurde der sozialistische Realismus aus der Sowjetunion importiert, wo er schon Anfang der dreißiger Jahre zum einzigen verbildlichenden Modell der Kunst und Literatur erklärt wurde. Dort kann er einerseits als Entwicklungsfolge der realistischen Malerei des 19. Jahrhundert (wie etwa derjenigen von Ilja Repin) und andererseits als Opposition zur Kunst der dortigen Avantgarde 1910-1930 (Suprematismus von Malevič, Futurismus und Rayonismus Larionovs, Gončarovas) angesehen werden. Von den im Dienste der KP handelnden Kulturpolitikern wurde der sozialistische Realismus als Kampfmittel gegen die „imperialistische westliche Politik und Weltanschauung“ und später als Beweis für eine antifaschistische, kommunistische Haltung benutzt. Das Formrepertoire war absichtlich dem fast fotografischen Realismus nah, der jedoch meistens Züge der europäischen Moderne der zwanziger und dreißiger Jahre trug; Inhalte waren vor allem das sozialistische, mit Freude arbeitende Volk, Bildnisse der Arbeiter mit ihren Familien und der im Sinne der Staatspolitik als führend angesehenen Persönlichkeiten sowie die entsprechenden Geschichtsereignisse. Der sozialistische Realismus hatte „sozialistisch im Inhalt, national in der Form“ zu sein, die Losung, die die allgemeine, staatsübergreifende Aussage seiner Kunst mit dem „national Typischen“ einzelner Staaten zu verbinden vermochte.
Der Anfang dieser Kulturrichtung lässt sich in Polen und in der DDR zwischen 1948 und 1952 festsetzen; zwischen der ersten Erwähnung des Namens „sozialistischer Realismus“ und der parteilichen Erklärung des sozialistischen Realismus zur „einzigen schöpferischen Methode“ vergingen sowohl in Polen als auch in der DDR ungefähr vier Jahre. Auffällig dagegen ist das zeitlich sehr unterschiedlich einsetzende Ende des Sozrealismus in der Kunst in Polen (um 1955) und in der DDR (siebziger/achtziger Jahre).
Über die neue Kulturrichtung in Polen sprach zum ersten Mal der neugewählte polnische Präsident Bolesław Bierut in einer Rede, die er anlässlich der Eröffnung des Funkhauses in Breslau Ende 1947 gehalten hat. Bierut äußerte sich über die Pflicht der Künstler, sich von breiten Bevölkerungsmassen inspirieren zu lassen und vom Ziel der Künstler, das in der Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung durch entsprechende Darstellungen in der Literatur und Kunst läge. Zunächst ist es bei dieser einmaligen Äußerung geblieben: Der Einfluss der Politiker auf das Kulturleben hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht das spätere Ausmaß angenommen. Im Januar 1949 (20. bis 23.1.) fand der 4. Allgemeine Kongress des Berufsverbandes Polnischer Schriftsteller in Stettin statt, der von der ersten Etappe der geplanten Kampagne für den sozialistischen Realismus gekennzeichnet war. Der dort anwesende Vizeminister für Kultur und Kunst Włodzimierz Sokorski eröffnete die Sitzung mit einem Referat „Die neue Literatur im Entstehungsprozess“. Dieses und weitere Referate wurden zur Grundlage darauffolgender theoretischer Diskussionen über den Sozrealismus in Literatur und Kunst. Ein halbes Jahr später wurde der sozialistische Realismus in der bildenden Kunst für verbindlich erklärt, und zwar auf dem 4. Allgemeinen Kongress des Verbandes Polnischer Bildender Künstler (27. bis 29.6.1949 in Warschau). Während der Sitzung sprachen sich einige Redner deutlich für das Fortsetzen der Avantgarde in der Kunst aus, wie zum Beispiel Tadeusz Kantor. Die Arbeiten der meisten Künstler, die sich als Gegner des Sozrealismus zu erkennen gegeben hatten, wurden in den folgenden Jahren nicht ausgestellt; es galt, einen Kompromiss mit der staatlichen Politik einzugehen, um als Künstler offiziell präsent zu sein. Anfangs wurde in Polen über die Vor- und Nachteile der Einführung des sozialistischen Realismus offiziell – besonders in Schriftstellerkreisen – viel diskutiert. Die katholische Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“war aber die einzige, die sich eindeutig und die ganze Zeit hindurch (bis auf die vorübergehende, durch diese oppositionelle Meinung verursachte Schließungszeit) dem Sozrealismus in der Literatur und Kunst widersetzte[1].
Auch in der DDR sprachen sich nicht nur führende Kulturschaffende, sondern auch der Ministerpräsident Otto Grotewohl für die neue Kunst aus. Die Presseartikel, die den Boden für den sozialistischen Realismus in der Kultur vorbereiten sollten, riefen lebhafte Diskussionen hervor. Eines der ersten Beispiele für eine ausformulierte These über die Vorzüge des sozialistischen Realismus war der in der Zeitung der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland „Tägliche Rundschau“ am 17.12.1948 aus der Feder des russischen Kulturoffiziers Alexander Dimschitz erschienene Artikel „Über die formalistische Kunstrichtung in der deutschen Malerei“, in dem die deutschen Expressionisten (erneut nach 15 Jahren) diffamiert wurden. Drei Wochen später erschien in derselben Zeitung der Gegenartikel des Malers Herbert Sandberg, der die als „Formalisten“ verhöhnten Maler (unter anderem Karl Schmidt-Rottluff, Paul Klee, und Franz Marc) verteidigte, sich jedoch nicht gegen die neue Kunstrichtung aussprach.
Die offiziellen Aussagen gegen die breit aufgefasste moderne und für die neue, im sozialistischen Sinne verstandene realistische Kunst häuften sich und wurden immer kategorischer. Von den Malern verlangte die Regierung die entsprechende Darstellungsform, alle anderen Strömungen wie abstrakte oder expressionistische Kunst wurden scharf kritisiert und abgelehnt. Mitte 1950, auf dem das Motto „Das neue Leben verlangt nach Gestaltung“ tragenden 2. Deutschen Schriftstellerkongress in Berlin (4. bis 6.7.), griff Anna Seghers das zu starke Eingreifen der SED in das künstlerische Schaffen an, weil es die Maler gänzlich verunsichere und ratlos mache. Ihre kritische Stimme war aber die einzige und wurde auch bei weiteren Diskussionen nicht unterstützt. Im Gegenteil, in dieser Konferenz setzte eine eher harte und dogmatische Interpretation des sozialistischen Realismus ein: Johannes R. Becher, künftiger Kulturminister, zog dort in seiner Rede zum ersten Mal eine deutliche Trennlinie zwischen der westdeutschen und der ostdeutschen Kunst, die auf der Grenze zwischen der Avantgarde und der sozialistisch engagierten Kunst liege, und sprach sich entschieden für den Sozrealismus als Merkmal der DDR-Kunst aus[2].
Entscheidend für den einheitlichen Kurs des sozialistischen Realismus in der Kunst war aber der Artikel des kommunistischen Kunstkritikers N. Orlov, der in der „Täglichen Rundschau“ am 21. Januar 1951 unter dem Titel „Wege und Irrwege der modernen Kunst“ erschienen ist. In diesem Text wurden deutsche Expressionisten wie auch manche zeitgenössische Maler und Kunsthochschullehrer angegriffen. Zu dem ein riesiges Aufsehen erregenden Artikel Orlovs wurden in der Presse auch gegensätzliche Meinungen veröffentlicht, so die Reaktion des Malerehepaares Hans und Lea Grundig. Sie ließen in derselben Zeitung einen Gegenartikel drucken, in dem sie etwa das von Orlov als „missgestaltet“ bezeichnete Werk von Käthe Kollwitz verteidigten. Diese und die anderen Gegenstimmen waren sehr ausgewogen; es wurde lediglich ein Versuch unternommen, die etablierten Expressionisten in Schutz zu nehmen, nicht aber die Idee des Sozrealismus abzuwerten. Trotzdem wurde der Artikelinhalt auf der 5. Tagung des ZK der SED im März 1951 als offizielle Meinung der Partei bezüglich der Kunst bestätigt. Auf der 2. Parteikonferenz der SED im Juni 1952 bezeichnete Johannes R. Becher den sozialistischen Realismus als „die einzige schöpferische Methode, welche zum Aufstieg einer großen deutschen nationalen Kunst führen kann“.
Edward Możejko stellte den polnischen „gemäßigten“ Versuchen, den Sozrealismus den Kulturkreisen zu „empfehlen“ die Versuche der DDR-Obrigkeit, diese Doktrin den Kulturkreisen diskussionslos „aufzuzwingen“ entschieden entgegen[3]. Er zeigte sich dabei von der Tatsache überrascht, dass in einem Deutschland, das vor dem Krieg eine reiche realistische Tradition besaß und in dem Deutschland (die DDR), in dem realistische Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Johannes R. Becher leben, das sowjetische Muster ohne Variationsversuche übernommen werden sollte und die Aufforderung dazu in einem „aufdringlichen, dogmatischen Ton“ der Artikel ablaufe[4]. Możejko stützte sich bei der Erklärung dieser Tatsache auf die These Hans-Dietrich Sanders, dass die SBZ/DDR die Sowjetunion so treu zum Vorbild hatte, weil das an einer marxistischen Tradition reiche Deutschland keinen wichtigen revolutionären Aufstand hervorgebracht hatte[5]. Demnach wäre ein Revolutionskomplex hier der Grund gewesen, sich so unkritisch auf die sowjetische Auffassung des Sozrealismus einzulassen. Możejko wies auf die „bedingungslose Akzeptanz der Theorie und Praxis sowjetischer Literatur“ hin, die insbesondere in den Artikeln aus den Jahren 1949-1950 auffällig sei[6]. Dadurch erklärte sich Możejko den Fakt, dass die Vorbereitungszeit für die Einführung des sozialistischen Realismus „bis auf ein Minimum abgekürzt wurde“. Demnach „ist das Problem in der DDR innerhalb des Jahres 1950 gelöst und letztendlich mit dem Beschluss des Zentralkomitees der SED Anfang 1951 sanktioniert worden“, während die Diskussionen über die Anwendung des sozialistischen Realismus in solchen Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn einen „sehr kontroversen“ Charakter gehabt und sich auf fast vier Jahre ausgedehnt hätten[7].
Diese Sicht des Sachverhaltes scheint mir etwas vereinfacht zu sein. Es stimmt, dass die von Możejko für den Anfang der einheitlichen sozialistischen Literatur und Kunst angenommene Schriftstellerkonferenz 1950 die Kultur der DDR dem Sozrealismus geöffnet hatte. Bei dieser Konferenz gab es jedoch die Gegenstimme von Anna Seghers. Dies versinnbildlicht, dass sich durchaus Stimmen der Kritik erhoben, wenn sie auch vereinzelt waren. Die Diskussionen um den sozialistischen Realismus, die durch die Zeitungsartikel 1949 und 1951 hervorgerufen wurden, dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden. Diese Beispiele widersprechen Możejkos Behauptung, Polen hätte einen längeren Weg der Einführung und der Akkommodation des Sozrealismus bedurft als die DDR, in der der Sozrealismus innerhalb von ein bis zwei Jahren ohne Diskussion eingeführt worden sei. Es fehlte in der DDR weder an den schon 1948 einsetzenden Versuchen der Einführung des Sozrealismus noch an Gegenstimmen von Seiten von Malern und Schriftstellern. Możejko scheint in seiner Untersuchung das Thema zu oberflächlich behandelt und womöglich die seit 1990 zugänglichen Archive für die Neuausgabe seiner Arbeit nicht berücksichtigt zu haben.
Das Bewusstsein radikaler Veränderungen auf dem Gebiet der Kulturpolitik setzte schon Mitte 1953 ein, denn – laut machen Forschern – waren die Folgen von Stalins Tod in Polen am schnellsten spürbar. Der Schwund der Malerei des sozialistischen Realismus in Polen wird in der Forschung als Spiegelung des politischen Prozesses der Entstalinisierung gesehen.
Im März 1954 fand der 2. Parteitag der PVAP statt, im April folgte ihm die 11. Sitzung des „Rates der Kultur und Kunst“, eines 1952 gegründeten Gremiums, das hauptsächlich die Übereinstimmung der entstehenden Kunst mit den Prinzipien des Sozrealismus im Sinne der Partei kontrollierte. Dort hielt Kulturminister Włodzimierz Sokorski, der auf eine vorsichtige und auch unklare Revision der bisherigen Kulturpolitik hinzielte, ein Referat „über die Fragen des künstlerischen Schaffens im Lichte der Richtlinien des 2. Parteitages der PVAP“ mit dem Untertitel „über die wirkliche Wende in unserer Kulturpolitik“. Nachdem er die Errungenschaften auf den unterschiedlichen Ebenen genannt hatte, stellte Sokorski die Senkung des künstlerischen Einfallsreichtums und des Kunstniveaus im Jahre 1953 fest und unternahm den Versuch, dem auf den Grund zu gehen. Als Ursachen dieses Zustandes nannte er die falsche Interpretation und das zu schematische Verstehen der Grundlagen des sozialistischen Realismus. Er kritisierte das bisherige Verhalten der Kulturverantwortlichen, die eng geschnittenen Beurteilungskriterien der Kunstwerke, das „Verfügen über die Kunst“, das fehlende Vertrauen in die Künstler. Mehr noch, Sokorski sprach über das volle Recht der bildenden Künstler auf eine eigene Malweise und auf Neuerungen in der Kunst, über das Recht auf die Freude künstlerischer Versuche.
Diese Auslegung rief eine reiche, in der Presse veröffentlichte Diskussion unter den Kulturschaffenden hervor und trug zu weiteren Kompromissen seitens der Regierung bei. Es war eine Einladung zum Verlassen des bisher einzig zulässigen Rahmens des Sozrealismus. Der Kulturminister bestätigte im Februar 1955 die neue Sichtweise, indem er auf der 15. Sitzung des „Rates der Kultur und Kunst“ die Umwertung und Vertiefung des Begriffes „sozialistischer Realismus“ forderte, die in der bildenden Kunst mit erweiterter Suche nach neuen Malformen verbunden waren – dies hieß ein Zulassen anderer Malformen. Die Reaktionen seitens der Künstler ließen nicht lange auf sich warten: das stärkste Manifest gegen die sozrealistischen Bilder war die Ausstellung der „Allgemeinpolnischen Jungen Kunst“ im Warschauer „Arsenal“ 1955. Sie glich einer Wende im künstlerischen und kulturellen Leben: kein einziges Werk des sozialistischen Realismus war dort zu sehen. Ein Jahr später, im März 1956, kam es auf der 19. Sitzung des „Rates für Kultur und Kunst“ zu einer scharfen Abrechnung mit dem sozialistischen Realismus und zu seiner endgültigen Zurückweisung[8]. Obwohl kritische literarische Artikel vereinzelt schon vor 1955 präsent waren, gab in diesem Fall gerade die bildende Kunst den offenen Äußerungen über die anderen Kulturbereiche ein grünes Licht. Dieses offizielle Abgehen von der sowjetischen Linie rief bei den Spitzenfunktionären der Sowjetunion, aber auch der DDR Unruhe hervor.
In der DDR wurde im Jahre 1953 die Zensur eher gelockert als verschärft. Die SED befürchtete nach der Intervention der Sowjetunion beim Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, der die Partei als reaktionsschwach entblößte, weitgehende Kompromisse. Eine offizielle Abrechnung mit dem sozialistischen Realismus konnte unter diesen Umständen weder im Bereich der Literatur noch der Kunst stattfinden. In damaligen Presseartikeln wurde jedoch zum Beispiel die Legitimität der Anwendung moderner Mittel für eine sozialistische Kunst diskutiert. Hier handelte es sich vor allem um die Frage der Zulassung der expressionistischen Malweise für die DDR-Malerei, die von einigen Künstlern und Kunstkritikern als die nationale Form der deutschen Kunst seit dem Mittelalter (wie etwa die Expression im Isenheimer Altar von Matthias Grünewald) angesehen wurde – die „gemäßigten“ expressionistischen Züge wurden allerdings trotz des offiziell erklärten „Kampfes gegen den Formalismus“ als eine Art Ventil durchgehend geduldet. Der gewagteste Protest gegen den Sozrealismus kam von dem Bildhauer Fritz Cremer und dem Maler Herbert Sandberg. In einer Diskussion über die Popularität des sowjetischen Sozrealismus verglichen sie auf einer Vorstandssitzung des Verbandes Bildender Künstler im Jahre 1953 diese sowjetische Kunst mit derjenigen der NS-Zeit und gaben dies als den Grund ihrer Unpopularität in der DDR an. Herbert Sandberg, der damalige Herausgeber der „Bildenden Kunst“, initiierte in dieser Zeitschrift eine Debatte (bekannt als „Picasso-Diskussion“) über die modernen Mittel für die sozialistischen Bildinhalte. Für die bei dieser Gelegenheit geäußerte Meinung, dass die westliche zeitgenössische Kunst bedeutender sei als die Sowjetmalerei, wurde er 1957 auf Geheiß der SED entlassen. Im selben Jahr fand dann eine Kulturkonferenz der SED statt, in der man – nach der offiziellen Anwesenheit und Anerkennung expressionistischer Bilder in der DDR in den beiden Jahren zuvor – nach einer „parteinahen“ Kunst verlangte. Der Sozrealismus existierte weiter, bis in die siebziger Jahre hinein.
Es gilt bei der Untersuchung des Problems weitere Dinge zu berücksichtigen: parallel zu den offiziellen Versuchen wurde dem sozialistischen Realismus „von unten“ geholfen. Hierzu zählten einige Künstlergruppen wie die „Grupa Samokształceniowa“ (Selbststudiumsgruppe) Andrzej Wróblewskis in Polen oder die eine sozialengagierte Kunst fortsetzenden Mitglieder der ehemaligen, kommunistisch orientierten ASSO (Assoziation revolutionärer bildender Künstler) mit Fritz Duda an der Spitze (später „Künstler in der SED“) in der DDR. Im Fall Wróblewskis war dies ein theoriegestützter Sozrealismus in Form und Inhalt, wobei ihm die Erschaffung einer qualitativ wertvollen Malerei gelang; Fritz Duda musste sich aber oft wegen des unerwünschten, „zu formalistischen“ Malstils vor der SED verantworten.
Die polnische Abkehr vom Sozrealismus ist „von oben“, vom Ministerium und von der Partei ausgegangen. Erst anschließend durften Schriftsteller und Künstler reagieren, was mit Erlaubnis und gewisser Zustimmung seitens der Regierenden geschah. Die Machthabenden hofften wenigstens einen Teil der schöpferischen Intelligenz auf ihre Seite ziehen zu können (dabei zählten sie auf die linken Traditionen der Intellektuellen), wofür sie zu einigen Kompromissen bereit waren[9]. Es kommt zu einem Phänomen: eine freigestaltete Kunst wurde erlaubt, ohne dass sich die politische Ausrichtung geändert hätte: Denn das Jahr 1954, in dem die von der Partei geforderte Kunst durch eine individuell bedingte Kunst in Reaktion auf die Zustimmung der Obrigkeit abgelöst wurde, zeichnete sich sonst durch keine politischen Veränderungen aus. Erst im Jahr 1955 kam es zur Veränderungen, wie die heimliche Freilassung Władysław Gomułkas, der einige Jahre lang als Abweichler gefangengehalten worden war, 1956 aber zum Ersten Sekretär der PVAP gewählt wurde. Auf das politisch ausschlaggebende Jahr des „polnischen Oktobers“ 1956 fallen weitere als demokratisierend zu verstehende Gesten der Regierung (die Freilassung des Primas Stefan Wyszyński aus dem Arrest, die Zulassung öffentlicher Kritik an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes). Allmählich kam es dann aber schon ab 1957 zur erneuten Verschärfung der Zensur und der staatlichen Kontrolle, was sich zum Beispiel in der Schließung der 3. Ausstellung der Modernen Kunst 1959 und der Schließung der wichtigsten Kunstzeitschrift „Przegląd Artystyczny“ äußerte. Eine Rückkehr zum Form- und Themenrepertoire des sozialistischen Realismus war aber nicht mehr möglich, die Regierenden versuchten dies auch nicht[10]. Anders war es in der DDR, wo die Anerkennung der Meister des Expressionismus und die Zulassung expressionistischer Elemente unter Beibehaltung sozialistischer Themen 1957 zurückgezogen und der sozialistische Realismus ohne Unterbrechung fortgesetzt wurde. Diese Tendenz mündete ein Jahr später im sogenannten „Bitterfelder Weg“, der zur stärkeren Verbundenheit der Künstler mit der Arbeiterklasse, in der Thematik wie auch in der Form, führen sollte. Erst in den siebziger Jahren kommt es zur stärkeren Auflösung der Form des sozialistischen Realismus, was aber von anderen als politischen Faktoren verursacht wurde und nicht mit politischen Veränderungen gekoppelt war. Einen solchen Gesichtspunkt vertritt Ulrike Goeschen, die den allmählichen Zerfall des sozialistischen Realismus von Innen heraus beobachtet[11]. Als Ausgangspunkt sieht sie den ständigen Rückgriff auf Formen der klassischen Moderne der Jahre 1910 bis 1930 und in der Nachkriegszeit (gemeint sind hier vor allem der Expressionismus und die neue Sachlichkeit), die – trotz ihrer realismusfernen Form – wegen ihrer Gesellschaftskritik als Ansatz des sozialistischen Realismus gesehen werden konnten. Nach Goeschen trug die ungeklärte Frage, welche künstlerischen „Mittel“ für die sozialistische Kunst legitim seien, zur Auflösung des steifen Sozrealismus in die „moderne“ Richtung bei. Was fehlt, ist die Information, wann dies sich eigentlich vollzogen hat. Ein festes Datum – so wie es für Polen das Jahr 1954 ausmacht – ist für die DDR nicht festzulegen. Der Verzicht auf den sozialistischen Realismus wurde offiziell erst auf dem letzten Kongress des Verbandes Bildender Künstler der DDR im November 1988 ausgesprochen. Zu dieser Zeit war seine Form von derjenigen der fünfziger Jahre ziemlich weit entfernt: schon lange war er von parallelen Kunsterscheinungsformen begleitet.
Das Abgehen von der Starre des sozialistischen Realismus in Polen, das weiteren politischen Lockerungen vorausging, ist eindeutig mit diesen Veränderungen zu verbinden. In der DDR vermochte „ein Tauwetter, das keines war“ (Hans Mayer) weder unter den Kulturfunktionären noch unter den Künstlern selbst dieser Doktrin ein Ende zu setzen. Demnach hätte man es bei dem Schwund des sozialistischen Realismus in der DDR eher mit einer innerhalb der Kunstentwicklung vollzogenen Ablösung der Darstellungsformen als mit einer – wie im polnischen Fall – politikabhängigen Entscheidung zu tun.
Dieser Text bezieht sich auf meine Dissertation über „Kunstpolitik der fünfziger Jahre in Polen und der DDR am Beispiel der Malerei“, die unter der wissenschaftlichen Betreuung von Frau Prof. Dr. Michaela Marek am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig entsteht.
[1] Die Schließung der Wochenzeitschrift war die Folge davon, dass die Redaktion sich geweigert hatte, eine feierliche Todesanzeige für Stalin in der Zeitung abzudrucken. Nach einer viermonatigen Redaktionspause im Jahr 1953 wurde die Redaktion der Wochenzeitschrift der mit der kommunistischen Partei zusammenarbeitenden katholischen Organisation PAX übergeben; erst im Dezember 1956 konnte die ehemalige Redaktion die Arbeit am „Tygodnik Powszechny“ wieder aufnehmen.
[2] Rüdiger Thomas, Staatskultur und Kulturnation. Anspruch und Illusion einer „sozialistischen deutschen Nationalkultur“, in: Kunstdokumentation 1945-1990. Aufsätze. Berichte. Materialien, hrsg. v. Günter Feist (u.a.), Berlin 1996, S. 20.
[3] Edward Możejko, Realizm socjalistyczny. Teoria. Rozwój. Upadek, Kraków (2., erweiterte Ausgabe) 2001.
[4] Możejko unterscheidet zwar dabei zwischen dem sozialistischen Realismus, der bisher keine Vertreter hatte und dem Realismus, der die genannten Schriftsteller charakterisiert, stellt aber Brecht in die Nähe des sozialistischen Realismus.
[5] Hans-Dietrich Sander, Nationale Dialektik in der DDR am Beispiel der schönen Literatur“, in: Deutsche Studien (1971), Nr. 36, 362 ff.
[6] Możejko sah im Ostblock zwei Lager, die eine ungleiche Handhabung des Sozrealismus präsentierten. Zu der ersten Gruppe zählte er Bulgarien, die DDR und Rumänien, zu der zweiten Polen und vorübergehend die Tschechoslowakei und Ungarn. Das Eingreifen der Partei in das Leben künstlerischer Kreise hat demnach in der ersten Gruppe (die sich sehr genau an sowjetischen Richtlinien des Sozrealismus orientierte) schon 1947/48 begonnen, und „hatte immer eine autoritativen, bisweilen brutalen Charakter“, in Polen dagegen hätten die führenden Parteileute erst 1950/51 begonnen, sich offen auf dem Gebiet der Kultur zu äußern. Ihre Interventionen waren auch vorsichtiger, hatten eher die Form allgemeiner Ratschläge oder Polemiken.
[7] Możejko (wie Anm. 3), S. 204; die Treue den sowjetischen Ansichten in der deutschen Artikeln lässt sich nach Możejko lediglich mit derjenigen bulgarischer Autoren vergleichen.
[8] Es wurden Referate über Literatur und Kunst vorgetragen; das Hauptreferat des Literaturkritikers Jan Kott „Über die Modernität und Revolutionarität“ rechnete scharf mit dem Sozrealismus ab. Die kommende Reformperiode wurde von ihm als „das Abgehen von der Mythologie“ bezeichnet, der Dichter Antoni Słonimski bezeichnete die nun abgeschlossene Ära des sozialistischen Realismus als „Periode der Furcht und des Zynismus“. Dabei sahen beide Autoren die Gründe für den Niedergang von Literatur und Kunst nicht im Marxismus, sondern in der Abweichung von seiner Philosophie.
[9] Piotr Piotrowski, Odwilż, in: Odwilż. Sztuka ok. 1956 r., hrsg. v. Ders., Poznań 1996, S. 14.
[10] Jerzy Morawski, der im Sekretariat des ZK der PVAP für die Kultur zuständige Mann, verkündete zum Beispiel 1957, dass die Partei im Prinzip eine Kunst fördern wird, die für die Massen kommunikativ sei, gleichzeitig aber sich des Eingreifens in die „Angelegenheiten des Schöpfens enthalte, da die Künstler sich damit besser als die Parteiorgane auskennen.“ Zit. nach Piotrowski (wie Anm. 9), S. 28.
[11] Ulrike Goeschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus. Die Rezeption der Moderne in Kunst und Kunstwissenschaft der DDR, Berlin 2001.
Quelle: Anna Malkiewicz: Aufstieg und Fall des sozialistischen Realismus am Beispiel der bildenden Kunst der Volksrepublik Polen und der DDR. In: Inter Finitimos 1, 2003, S. 107-114.