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Anke Paula Böttcher

ÖÖ - entfernungsunabhängig kommunizieren

Zum erweiterten Sprachbegriff bei Joseph Beuys und Carlfriedrich Claus.

Für Klaus Werner (1940-2010)

Im Januar 1986 fertigt Carlfriedrich Claus eine Reihe von Kreidezeichnungen an, von denen einige dem russischen Futuristen und ‚Sprachrevolutionär’ Alexej Krutschonych[1] erinnernd gewidmet sind, andere wiederum setzen sich mit konkreten politischen Ereignissen[2] auseinander. Ihrer Struktur nach gehören diese Arbeiten in den größeren Werkkomplex der seit 1982 entstehenden Kara-te-Arbeiten[3], bei denen es Claus um das Freisetzen innerer Energien in so genannten „Affektschriftzügen“ zu tun ist.

Einem Blatt aus dieser Serie (Abb. 1), datiert auf den 11. Januar 1986, gilt hier unsere besondere Aufmerksamkeit: Es wird dominiert von zwei Augen - oder einem Augenpaar, das sich aus einer skripturalen Landschaft erhebt. Augen tauchen immer wieder in den Werken von Claus auf und besitzen für ihn besonderen semantischen Wert.[4] Sie weisen auf eine Art Bewusstwerdung, auf eine Weise des Erkennens hin. Ein großes, offenes, waches Auge im linken Bildvordergrund schaut uns an, es tritt in direkten Blickkontakt mit uns und eröffnet das Gespräch. Dahinter, in einer Fluchtlinie zum rechten Bildrand, erscheint ein ‚blickloses’ Auge. Blicklos deutet nicht auf Leere oder Blindheit hin, sondern zeigt die Innenschau an. Die Augenhöhle spendet Ge- und Verborgenheit, um dem nach innen gewandten Blick den Moment der Selbstbewusstmachung zu gewähren und ihn zu schützen. Um jenes introvertierte Auge zu erreichen, muss unser Blick unleserliche, affektiv geschriebene Landschaft durchwandern. Die an Schriftzüge erinnernden Linien erschweren den Weg der Augen durch das Blatt, doch fordern ihn zugleich heraus und beeinflussen unsere Wahrnehmung. Dann, hinten rechts am Horizont – als Fluchtpunkt in der Linie beider Augen – erscheint salutierend die hebräische Buchstabenkombination für Schalom, für jenes Begrüßungs- und Abschiedswort, das auch Friede bedeutet...

Die Arbeit ist im Werkverzeichnis von Klaus Werner[5] als Besitz von Klaus Staeck angezeigt und trägt den Titel: Erinnerung. An Joseph Beuys. Zwölf Tage nach ihrer Entstehung, am 23. Januar 1986, stirbt Joseph Beuys.

Das Verhältnis zwischen Betitelung und Chronologie verwirrt. Wie sich inzwischen herausstellte[6], wurde es auf Bitte von Klaus Staeck für dessen Erinnerungspublikation an Joseph Beuys[7] nachgewidmet. Die Zeichnung wurde also nicht speziell für Beuys angefertigt, jedoch hat Claus sie bewusst für ihn ausgewählt. Wie ein Gruß zu einem entfernten Vertrauten erscheint sie, eine geopolitische Barriere und noch eine weitere Mauer durchbrechend: jene, die das Leben vom Tod trennt.

BEUYS: Der Tod hält mich wach.[8]
CLAUS: Der Versuch, aus der Gewissheit des Todes zu leben, gibt Halt. Intensivere Bewusstheit. Distanz zu sich selbst.[9]

Klaus Staeck scheint eine Verbindung zwischen beiden Künstlern ausgemacht zu haben.[10] Doch welche Art von Beziehung könnte zwischen Joseph Beuys und Carlfriedrich Claus existiert haben? Eine beiden unbewusst wie der Außenwelt unsichtbar gebliebene? Konkrete Details bleiben eine bislang offene Frage an die speziellere Kunstgeschichte. Dieser Beitrag möchte die Spur einer spekulativen Verwandtschaft verfolgen.

Wahrscheinlich hätten sich beide in der ÖÖ-Sprache unterhalten... - und einander verstanden. ―

Für Joseph Beuys (1921 in Krefeld geboren / 1986 in Düsseldorf gestorben) wie auch für Carlfriedrich Claus (1930 in Annaberg geboren / 1998 in Chemnitz gestorben) ist Sprache – oder besser: Sprechen – als Vehikel des Existierens unhintergehbarer Ausgangspunkt ihres Schaffens. Wie beide Künstler Textstoffe und Erfahrungsstoffe zeichnend-schreibend weiterdenken und wie sie etablierte Verständigungsformen befragen und ergänzen, soll folgend in Form eines imaginären Dialogs vorgestellt werden. Vorangestellt: Dieses Vorhaben erscheint mit der Hypothese der erst beengten, dann erweiterten Sprache im doppelten Sinne paradox: Erstens, weil beide Künstler – die von ihnen bis zu ihrer Auflösung strapazierte – Sprache konventionell benutzten, um ihr künstlerisches Werk theoretisch zu untermauern und zu kommentieren. In beiden Fällen handelt es sich um ein komplexes Oeuvre, das sich einer Beschreibung in Form von gewöhnlicher Sprache gleichsam entzieht. Da jedoch gerade diese Teile des Werkes von allgemeinem Interesse und im vorliegenden Beitrag besonderer Gegenstand der Argumentation sind, macht sich ein zweites Paradox bemerkbar: nämlich dass hier über etwas gesprochen werden soll, über das ‚so’ eigentlich nicht gesprochen werden kann. Bei diesem Problem bietet sich nun Paradox Nummer eins als hilfreicher Begleiter an...

Als Sprechen bezeichnen wir für gewöhnlich das Äußern, als Kommunizieren das Austauschen eines Zeichenvorrats, über welchen ein semantischer Konsens besteht. In sprachlich gefassten Zeichen findet unser so genanntes ‚Denken’ und unsere Orientierung in der Welt statt. Sobald sich die ‚Zeichen’ zu einem ‚System’ verdichtet haben, ist der Mensch – als an diesem System Teilnehmender und es zugleich Begründender – in der Lage, durch die sprachliche Kategorisierung von Lebensprozessen Erkenntnisse anderer übernehmen und einordnen zu können. Er muss dabei nicht mehr zwingend auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, denn diese können ja innerhalb der Grenzen unseres Sprachsystems gemacht werden. Der Prozess einer intensiven Durchdringung der Welt und ihrer Sachverhalte wird somit möglich. Aber unterliegt er nicht auch einer Beschränkung in Form einer ‚Wiederkehr des Immergleichen’ und einem Verharren auf einer bestimmten Ebene des Existierens/Kommunizierens? Gerät dabei die innere wie äußere Beweglichkeit nicht in Gefahr? Und sind es nicht die Grenzgänge/r der mystisch-religiösen und/oder künstlerischen Botschaften, die solch einer Beschränkung versuchen zu begegnen und sie aufzuheben?

Umberto Ecos Konzept der „ästhetischen Botschaft“[11] bietet eine Antwort an: Die ästhetische Botschaft erweitert unseren Erfahrungshorizont insofern, als sie die sprachlichen/interpretatorischen Möglichkeiten bis zur Erschöpfung herausfordert und normierte Betrachtungsweisen/Erfahrungsgehalte hinterfragt sowie neue prägt. Jedoch verbleibt sie im Rahmen einer ‚herrschenden’ Sprache, insofern sie sich selbst wieder Normen subsumiert oder diese – als Stil – erzeugt.

„Sobald das Werk das Spiel der aufeinanderfolgenden Interpretationen auslöst, veranlaßt es uns vor allem dazu, den Code und seine Möglichkeiten neu zu bedenken. Jedes Werk erschüttert den Code, aber gleichzeitig potenziert es ihn auch; es zeigt unvermutete Möglichkeiten, eine unbekannte Geschmeidigkeit in ihm; indem es ihn verletzt, vervollständigt es ihn und gestaltet ihn um [...], es verändert die Haltung der Sprecher dem Code gegenüber.“[12]

Eine Animation des (menschlichen) Potentials zu Veränderung und Entwicklung zu sein verspricht uns das...

...Kommunizieren als künstlerische Praxis.

Fragen an die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Sprache im Allgemeinen und der so genannten poetischen Sprache im Besonderen werden in Theorie und Praxis zum zentralen Berührungspunkt zwischen Joseph Beuys und Carlfriedrich Claus. Beide wiesen auf ihre ‚Herkunft’ von der Sprache hin. Claus beispielsweise sah sich selbst immer als Literat.[13] Die Rolle des ‚Bildenden Künstlers’ wurde erst von außen an ihn herangetragen bzw. ergab sich aus der zunehmenden Verbildlichung seiner experimentellen Poesie.

CLAUS: ...aus „semantischen“ Informationen werden quasi-musikalische bzw. quasi-graphische- „Quasi“ – denn ihr Quellstoff ist eine ästhetische oder auch anti-ästhetische, aber: sprachliche Botschaft.[14]
BEUYS: Mein Weg ging durch die Sprache, so sonderbar es ist, er ging nicht von der sogenannten bildnerischen Begabung aus.[15]

Beide empfanden ein ähnliches ,Gefangensein’ im Netz der konventionellen Sprache. Zugleich waren sie sich jedoch auch bewusst, dass eine als ‚Verweigerung’ deklarierte Absage an die Sprache nicht mehr als eine Korrektur der eigenen Haltung zum jeweiligen Sprachgebrauch mittels differenter Codes sein kann. Ihre ,Befreiungsvorschläge’ zielten deshalb nicht auf eine Zerstörung oder einen Austritt aus der Sprache ab, sondern richteten sich gegen ihre Instrumentalisierung als Dogma fester Begriffe, die unsere Erfahrungen einschränken: Inneren und äußeren Stimmen und Stimmungen wurde im Arbeitsprozess freier Lauf gelassen und dieser von keinerlei ästhetischem Kalkül[16] oder festen semantischen und syntaktischen Mustern gesteuert. Die Ergebnisse mögen manch einem Rezipienten als antipoetisch erscheinen - an anderen Stellen wird zu Recht von der Begründung einer neuen Poesie gesprochen.

Lautprozesse und ihre Zeichen (Lallen, Schreien, Sprechen, Singen, Rauschen, Musizieren) stellen für Claus und auch für Beuys die Urform der Kommunikation dar, was in verschiedenen Aktionen und Experimenten immer wieder deutlich wird.

Erinnert sei beispielsweise das im Werkprozess optisch wie akustisch immer wiederkehrende Beuyssche >Ö Ö<.[17] Diese tief in der Kehle erzeugten Laute bezeichnet Beuys als Grundlaute, als Basis der Sprache. Er spielt hier auf die Stimme als das ‚humane Instrument’ schlechthin an, welches das Klangmaterial aus der Kehle entfaltet.[18] Er warnt jedoch immer auch davor, die menschliche Stimme entfremdend zu isolieren, sie als Sprechwerkzeug in den Dienst eines einseitigen, direktiven Sprachgebrauchs zu stellen.

Deutlich wird dies z.B. bei der Aktion Titus Andronicus / Iphigenie.[19] Die Zusammenführung einer dichterisch artikulierten Sprache mit befremdlichen Lauten und scheppernden Geräuschen soll hier auf die Entstehung der Sprachlaute im Kehlkopfbereich und deren Verwurzelung im Nichtsemantischen hinweisen. Denn durch Sprechen, sagt Beuys, „entsteht ein plastischer Vorgang aus dem Menschen heraus, dessen Ausdehnung im Material fortschreitet und alles Existente umfassen kann, damit menschliche Kreativität stofflich vermittelt wird.“[20] Ziel dieser Aktion war es schließlich, dass das Publikum „von verschiedenen Sprachen, auch der des Pferdes, und willkürlicher Kehlkopflaute“ etwas lerne, um durch diese Aufnahme der „Informationen über Sprache“ zu einer veränderten Innerlichkeit zu kommen.[21]

Der Form des a-semantischen Sprechens und der Isolierung der Einzellaute – besonders der Konsonanten – bediente sich auch Carlfriedrich Claus. Aus naturlyrischen Gedichten Anfang der 1950er Jahre entwickelt er sehr bald eine besondere Art akustischer Literatur[22]: Mittels einer ‚Überformung’ der Texte, der Isolierung und Neugruppierung der Laute hinterfragt er eine ‚eingespielte’ Semantik und macht auf die mögliche Variabilität von Wahrnehmung und Interpretation des Lautgeschehens aufmerksam. Den Klangexperimenten gingen Exerzitien in der Natur voraus, um Bedingungen zu untersuchen und Hemmungen abzubauen. Claus strebt hierbei auch besonders die Verlautlichung jener Affekte sowie psychischen und biologischen Rhythmen an, die sonst keine Stimme erhalten, also für gewöhnlich unterdrückt werden. Im Selbstexperiment, in öffentlichen Lesungen ebenso wie in seinen theoretischen Traktaten verfolgt und fordert Claus eine Offenheit bzw. Öffnung für diese ‚Spielart’ des Sprechens: „Immer aufs neue befreit, der ‚Sprache’ – als nichts als Verständigungsmittel – entblößt, ward der Laut ja bereits seit Urzeiten, und da wohl am ekstatisch-gewaltigsten. Wir haben das Organ für diese Magie des Klangs in uns, können es, abgeschwächt allerdings, noch heute in Gang bringen. [...] Da sind Sprachgrenzen keine Grenzen; [...] die Tendenz, sich in die riesige, vor, unter, nach der ‚Sprache’ geschehende Klangprozesswelt, in der es von Höhl-, Strahl-, ja Heil-Kräften geradezu wimmelt, einzuschalten oder vielmehr: sie überhaupt erst, artikulierend, zu bilden; hier ‚schreibt’ sich der Gesamtorganismus des Kehlreich-Experimentators in die Luft hinein, spontan, modifiziert sie dabei, mit allem darin, und zugleich, rückwirkend, sich.“[23]

Beide Künstler versuchten die Sensibilität des Hörers für ein weiter und tiefer gefasstes Sprechen zu wecken und mit den Experimenten auch einen „schamanistischen Aspekt ihrer Lautpoesie“ zu realisieren: nämlich als Vorstöße in verdrängte, archaische Bewusstseinsbereiche[24] und als Kommunizieren mit/von Gestalten, Wesen und Vorgängen, seien diese sichtbar oder nicht.

Gegen Ende der 1950er Jahre breiten sich bei Claus innerlich wie nach außen Gesprochenes/Gedachtes als Geschriebenes auf dem Schriftgrund immer mutiger aus. Die so genannten Sprachblätter (speech sheets) entstehen.

Neben den Experimenten mit den Klangzeichen kann das Experiment ‚Sprechen durch das Blatt’ nicht im genormten Format einer Schriftlichkeit verharren. Bleibt Schrift auch wesentlicher Bestandteil der nun entstehenden ‚Zeichnungen’[25], wird sie doch zugleich wieder in Freiheit gesetzt und auf Reisen geschickt. Sie darf wieder Bild[26] und zugleich mehr als Bild, darf auch Text und zugleich mehr als Text sein. Claus weist auf die strukturelle Mehrwertigkeit seiner Sprachblätter selbst hin: Mindestens zwei vorhandene Informationsebenen – die sprachliche und die optische – erzeugen im Betrachter „eine spezifische spannung [...]. er nimmt vernetzungen, widersprüche, spannungen, kämpfe zwischen den beiden ebenen wahr, führt sie weiter, schaltet sich in den diskurs, in dem sich das blatt befindet, aktiv ein.“[27]

Schrift bleibt einerseits und zum Teil lesbares, zu lesendes Element des Blattes, fungiert aber gleichsam als graphische Struktur, die der Arbeit ihre Gestalt und Dynamik verleiht. Claus steigert diesen Doppelprozess noch, indem er – entgegen der üblichen konsekutiven Vorgehensweise – den inneren Artikulationsvorgang direkt mit der schreibend/zeichnenden Handführung verknüpft.

BEUYS: Zeichnungen sind eine andere Form der Sprache.[28]
CLAUS: Deutliche Metamorphose: von Gedanken, dem Schreiben des, der Worte –Raupe– , zum die Erkennbarkeit des Wortes zerstörenden Gegenzug –Verpuppung– , zum Endzustand : Falter. – Oder: von der Transitivität des Worts, Gedankens, über die Intransitivität des Aufbruchs, dann der Durchgeführtheit.[29]
BEUYS: Eine erweiterte Verständigung will ich erreichen, damit Dinge ausdrückbar werden, die in tiefere Bereiche führen. Diese Spracherweiterung interessiert mich an der Zeichnung.[30]

Beuys nutzt das Potential der Zeichnung von Beginn an als eigenständiges Medium. In den frühen Zeichnungen fertigt er freie Studien von Menschen-, Pflanzen- und Tierwesen. Die darauf folgenden Arbeiten versuchen energetische oder morphologische Transformationen (Abb. 2), aber auch Entwürfe sozialer Strukturen auf dem Papier zu visualisieren. Die seit 1964 seinen Aktionen zugrunde liegenden funktionalen Begleitpapiere und die bei Vorträgen entstandenen Kreidezeichnungen auf Schultafeln nennt er Partituren. Im gesamten zeichnerischen Werk entwickelte er eine eigene Bildsprache, die seine Installationen und Aktionen diachron fundierte.[31] Während bei Claus die Schrift – auch in ihrer Transformation zum Unleserlichen – zumeist Blatt bestimmend ist, nutzt Beuys sie in den Zeichnungen als ergänzendes Moment seiner Darstellungen von epistemologischen, kognitiven oder sozialen Prozessen, bei den Diagrammen und Partituren hingegen werden die lesbaren Zeichen konstituierend (Abb. 3).

Dass konventionelle Sprache ein unverzichtbarer Teil der bildnerischen Arbeiten beider bleibt, bezeugen auch die Titel. Bei beiden Künstlern besitzen sie eine in das Thema der Zeichnung einleitende Funktion. Zu ernst ist ihnen das zu Vermittelnde, zu geheimnisvoll das unmittelbare Erscheinende, als dass die Titel oder zu lesenden Zeichen rätselhaft oder absurd gesetzt sein könnten; sondern immer soll einen direkter Bezug zur und theoretischer Einstieg in die Zeichnung und/oder den mit ihr verbundenen (gedanklichen) Vorgang stattfinden. So besitzen die Clausschen Sprachblätter die Struktur einer Zeichnung, aber erinnern oftmals ihre mindestens doppelte Funktion, indem sie heißen: Essay, Notiz, Gedicht, Beschreibung, Aus-Spruch, Buch, Brief usw. Die Grenzen zwischen sprachlicher und bildnerischer Arbeit heben sich auf. Ob Essay, Introspektion oder Buchskizze (Claus), ob Partitur, Tafelwerk oder Kontrollzeichnung (Beuys), sie verkörpern allesamt...

...Landschaften des Denkens / Weben des Fühlens.

In den Zeichnungen wird Individuell-Handschriftliches zu Struktur, Strukturen werden mit Symbolen konfrontiert, um deren Verwendungskonventionen zu befragen, um Bedeutungen zu öffnen, neu zu ordnen oder sogar im Mehrdeutigen zu präzisieren. Fragmente natürlicher Sprache stehen neben den offeneren Formen und gestischen Bewegungen. Zeichnen, so wie von Beuys und Claus verstanden und praktiziert, wird zu einem holistischen Vorgang, der mehrere Sinne sowie sprachliche Ebenen einschließt und deren Zusammenhänge offen legen möchte. Im graphischen Potential der Zeichnung suchen sie einen Weg, dem unsichtbar Wirksamen ein imago zu geben.

BEUYS: Die Zeichnung ist Verlängerung des Gedankens.[32]
CLAUS: Ich zeichne ja nie, sondern die Hand wird gesteuert vom Sprachdenken, sie läuft niemals allein, dadurch treten dauernde Verzögerungen auf, Hemmungen, Widersprüche auch zu dem, was man eben nicht niedergeschrieben hat.[33]
BEUYS: ...die Zeichnungen sind Denkformen innerhalb meiner skulpturalen Absichten.[34]
CLAUS: ...das blatt wird im produktionsprozess schauplatz, grenzberührungsfeld von sprachlosem und sprachdenken in seinen verschiedensten stufen und modi.[35]

Denken/Sprechen/Notieren erweisen sich im zeichnerischen Werk von Beuys und Claus als simultane Prozesse (Abb. 4/5). Die Genese der Zeichen auf dem Papier visualisiert das Geschehen des Artikulationsvorganges: Die Mehrfachbesetzung der Linie, die Spontaneität einer Niederschrift, die als gesetzte Spur übers Blatt fließt, abrupt abbricht, wieder aufgenommen wird, das Verweben von augenscheinlich Bedeutendem mit Bedeutungsfreiem: Zeichen verflüssigen sich, lösen sich auf, verzweigen sich, multiplizieren sich, kehren wieder... Der Beschreibstoff wird zum Spiegel innerer Vorgänge: die Schwere und das zugleich Schwebende, die Spannung der Vagheit und allmähliche Gestaltnahme eines inneren Formulierungsprozesses wird sichtbar; Ströme verschiedener Ebenen des Bewussten und Vorbewussten gelangen zueinander. Sie kristallisieren zu einem Gesamteindruck und geben zugleich Sinngehalte frei, die nicht auf einen ‚ersten flüchtigen Blick’ erfassbar sind.

So erhält das „vom Gehirn geführte“ Zeichnen für Beuys im Laufe seiner künstlerischen Entwicklung immer größere Bedeutung und nicht grundlos nennt Claus viele seiner Arbeiten auch Denklandschaften.

Jedoch würden die Zeichnungen als graphische Protokolle eines strengen Denkens in einer bestimmten Phase erstarren, würden sie nicht das oftmals Ausgeklammerte, Unberücksichtigte mit einbeziehen und damit neue Zusammenhänge zulassen: Einerseits gilt nach wie vor für jeglichen Austausch von Signalen: als ‚Transport’ von Energie ist er an materielle Prozesse gekoppelt. Die Materie, das Material erhält in der ästhetischen Botschaft als Ausdruckssubstanz eine Form, der besondere Aufmerksamkeit zukommt.[36] Somit wird das Material ebenfalls zum Sender, das auf die Rezeption der Botschaft Einfluss nimmt. Auch die in den diversen Kommunikationsmodellen dargestellten Störungen als „Widerständigkeit des Materials“ (Claus) – Rauschen, Materialität des Beschreibstoffes – sind unterschwellige Sendungen, die das Gespräch mitbestimmen.

Andererseits halten die alle Handlungen evozierenden wie auch begleitenden Affekte/Emotionen Einzug in die Zeichnungen und prägen ihre Strukturen maßgeblich mit.

CLAUS: produktions-beginn eines blattes ist entweder ein willentlich gefasstes, mit sprachdenken genauestmöglich begriffenes und formuliertes thema, - oder das jeweilige chaos (bzw. die automatismen) des vom willen ungesteuerten „inneren dialogs“...[37]
BEUYS: ...mehr als nur das, was die gegenwärtige Zeitkultur an Wissenschaftlichkeit, an Kunstbegrifflichkeit und Sinnen darstellt. Ich gehe darüber hinaus: ich stelle Fragen, ich bringe Sprachformen aufs Papier, ich bringe auch Empfindungs-, Willens- und Denkformen aufs Papier und versuche damit Anregung zu geben.“[38]
CLAUS: Apropos : in der Arbeit an jedem einzelnen Schriftbild berühre ich mit dem gleichen Wort, Satz, Silbenpartikel die verschiedensten Triebgefühle, Affekte, treffe sie mit dem Wort etc. wie sie das Wort etc. treffen...[39]

Seismographisch zeichneten Beuys und Claus bewusste und unbewusste Vorgänge nicht nach, sondern unmittelbar auf. Das bearbeitete Blatt wird so zum Ort einer umfassenden Selbsterfahrung, ihres Ausdrucks und dessen Vermittlung. Zugleich wird die Zeichnung auch zum Ort der Auseinandersetzung mit Philosophie, Literatur, Natur- und Sozialwissenschaften. Als Medium zum Fortschreiben eines Textes, Weiterdenken von Wissens- und Erfahrungsstoff wird das Zeichnen zur Schnittstelle von mehr als dem Dialog zwischen Autor und Beschreibstoff...

zeichnen als metamorphosieren.

Carlfriedrich Claus könnte man als einen Universalgelehrten bezeichnen, dessen Studien weite Gebiete – von mystisch-religiösen über philosophische bis hin zu sprach- und naturwissenschaftlichen Schriften –­ umfassten. Er erlernte autodidaktisch verschiedene Sprachen und unterhielt eine umfassende Korrespondenz. Erinnern wir uns außerdem an seine Selbstverortung in der Literatur, nimmt es nicht Wunder, dass Lesestoffe als Denk-Schreib-Stoffe unmittelbar in seine Zeichnungen einflossen. Die Konzentration auf einen (gelesenen) Gedankengang, auf dessen Partikel oder auf die durch ihn ausgelösten Impulse stellten die wesentlichen „starting points“[40] beim Entstehen eines Sprachblattes dar. Einer der wohl wichtigsten Dialogpartner hierbei war Ernst Bloch. Man möchte behaupten, dass kaum ein Künstler das Denken Blochs so intensiv verinnerlicht, reflektiert und weitergedacht hat wie Claus. Der Blochsche Duktus findet sich in den Sprachblättern, aber auch in den theoretischen Schriften. Claus identifizierte sich bis ins Detail mit der Geschichts- und der Naturphilosophie von Bloch. Er desavouierte damit jenen Vulgärmarxismus, der ihn als realsozialistische Realität umgab, ohne jedoch je von einer mit dem ‚Hoffnungsphilosophen’ geteilten kosmologisch-kommunistischen Zukunftsvision zu lassen, die beide in ihren Werken immer wieder antizipierten. Inspiriert durch Bloch beschäftigte sich Claus auch mit Werken von Paracelsus, Jacob Böhme, Spinoza u.v.a. sowie mit historischen Figuren wie Thomas Münzer oder Till Eulenspiegel und widmete ihnen eigene Sprachblätter.[41]

An dem Blatt zur Archeus-Vulkanus-Kontaktfrage (Abb. 6) kann man exemplarisch erkennen, wie Claus den Blochschen Text[42] einer Metamorphose unterwirft. Die Lektüre von Blochs Ausführungen zum utopischen Potential der Willenstechnik ist für Claus unmittelbare Inspiration, die er auf Denk-Schreib-Reise schickt. So schreibt er am 30. April 1965 in sein Tagebuch: „Ich konnte die Willensintention des Archeus-Vulkanus-Blattes für Bloch eben noch durch eine Verstärkung, vom ‚Auge’, längs der ‚Nasen’-Frontlinie (das Wort: ‚wille’) potenzieren. Quasi aus Morgenlektüre Blochs, dem Resultat-Augenblick heraus.“[43] Jenes Blatt widmet er Ernst Bloch und schenkt es ihm zum 80. Geburtstag. In einem beiliegenden Brief vom 3. Juli 1965 heißt es: „Das Blatt ist, der Intention nach, ein vorversuchendes Experiment, das sich auf Ihren Richtungsakt ‚Wille und Natur, die technischen Utopien’, besonders den Abschnitt ‚Elektron des menschlichen Subjekts, der Willenstechnik’ und in ihm immer wieder besonders auf die Seiten 256ff hinbewegt...“[44]

Der verinnerlichte Text wird mit eigenem Denkstoff verwoben, um ihn dann letztendlich – mit der Hand gekoppelt – erweitert zu senden: Gedanken, die der Text beschreibt und Gedanken, welche die Beschreibung auslöst, verbinden sich miteinander zu einem neuen Stoff. Am 27.12.1965 kommt Claus in seinem Tagebuch auf dieses Weiterweben als Einbeziehen unterschwelliger Gedanken bei der Lektüre zurück: „...in dem ‚Embryo-Blick ...’ funktionierte ich, vorbewusst, den Phallus um: in die Zunge, die willenstingiert, möglicherweise Kontakt aufnehmen kann: mit dem hypothetischen Natur-Subjekt. Hirnaktionen, Großhirnaktionen in der Zunge; mit ihr.“[45]

Auch Beuys hat eine beachtliche Lektüre bewältigt: von den anthroposophischen Schriften Steiners – die übrigens auch einer der ersten Lesestoffe des jungen Claus waren – über Schiller, Novalis und ebenfalls Paracelsus bis hin zum modernen Roman.

In den Jahren von 1958 bis 1961 nutzt Beuys sechs Schulhefte für insgesamt 355 Zeichnungen, Skizzen und Notizen. Er nennt die Serie Joseph Beuys verlängert im Auftrag von James Joyce den Ulysses um sechs weitere Kapitel.[46] (Abb. 2/3/5) In den 1950er Jahren beschäftigt sich Beuys intensiv mit dem Ulysses und Finnegans Wake. Inspiriert von diesen Texten entsteht jenes Werk, dessen Selbstauftrag Beuys folgendermaßen begründet: „Ja, es gibt eine Parallelität, und ich habe mich auf Joyce bezogen, weil ich meinte, daß diese Dinge, die das Weltall verändern, in unser Bewußtsein gehören, daß man sie hervorheben müsse, denn unterhalb dieses Anspruchs kann man gar nicht bleiben. Aber wenn man so etwas will, dann muß man natürlich auch dafür sorgen, daß diese Dinge leben und wirklich etwas von ihnen ausstrahlt...“[47]

Der Roman beschreibt und verkörpert selbst verschiedene Metamorphosen, so jene der von Joyce experimentell eingesetzten Sprache.[48] Äußere Eindrücke und innere Gedanken der Protagonisten überlagern sich und treiben einander gegenseitig voran. Eine Odyssee von Bewusstseinsströmen wurde verfasst.[49] Beuys nimmt den Text als abstrakten Prozess sich wandelnder Situationen und Figurationen auf und verwickelt dabei den Autor Joyce in ein imaginäres Gespräch. Die dabei entstehende Zeichnungsfolge wird zur Folie, auf welcher das Gespräch aufgezeichnet wird. Der Textstoff wird als Darstellung abstrakter energetischer Prozesse in Analogie zur Natur neu erfahren.

Beuys wie Claus geht es bei solchen textorientierten Arbeiten nicht um ein konventionelles Illustrieren oder bloßes Kommentieren eines Textes, sondern um eine Übersetzungsleistung, wie sie beispielsweise von Juri Lotman beschrieben wird.[50] Der Text organisiert sich neu, wird Neues, ohne verloren zu gehen. (Abb. 7) Er wird einer Lesbarkeit anderer Struktur zugeführt, die kein bloßes Ab-Bild einer Lektüre ist, sondern Gedanken/Botschaften des Textes werden (sinnlich verwandelt) in Bewegung gesetzt. Die Autorschaft wird übernommen und erneut weitergegeben. Der Leser wird selbst wieder zum Autor des transformierten Textes wie der zum Werk gewordene Lesestoff ebenfalls wieder zum Rohmaterial wird, das sendet und empfangen werden will. Evident wir hier ein in alle Richtungen ausgeschöpftes Prinzip der Wechselwirkungen von Sender und Empfänger, von dem beide Künstler ausgehen.[51] Die sich so entfaltenden vielfältigen Dialoge begründen gemeinsame Charakteristika, die im zeichnerischen Werk von Beuys und Claus markant werden:

Es gibt kein fertiges Blatt, alles Entstehende verweist wieder auf anderes: Einzelblätter formieren sich bei Beuys’ zu großen Zeichnungsblöcken[52] und bei Claus zu so genannten Kombinaten.[53] Diese korrespondieren wiederum miteinander und werden von den Künstlern selbst wieder als unabgeschlossen und in größerem Zusammenhang betrachtet.

Einzelblätter bleiben in Bewegung, werden zur Gesprächsfolge: Neben Blattschichtungen entstehen bei Claus virtuelle Blattfolgen aus einem immer wieder überarbeiteten Einzelblatt, von ihm „Kommentar des Kommentars“ genannt, sowie seit 1961 durch die doppelseitige Beschriftung von Transparentpapier Vierheiten von Vorderseite, Rückseite und zwei Durchsichten. Beuys montiert Einzelblätter als Serie oder Gruppe zum Set.[54]

Beide Künstler arbeiten mit begeh- und zugleich lesbaren Großformaten als Rauminstallationen, bei Beuys seien es die Tafel-Installationen und bei Claus die Experimental(Schrift)räume, bei denen die Auf-Zeichnungen zum „begehbaren Buch“ (Claus) werden. Die Sprache erfährt eine besondere, den menschlichen Körper und seine Sinne herausfordernde Verräumlichung.

Eine Polyphonie der Stimmen vereint die Sprechenden durch Zeit und Raum hindurch; z.B.: James Joyces schreibt mit Ulysses Homers Odyssee um, Joseph Beuys schreibt Joyce’ Ulysses um. Oder Ernst Bloch rezipiert Paracelsus’ Archeus und Carlfriedrich Claus rezipiert Blochs Schrift zur Willenstechnik. Und wir schreiben Betrachtetes für uns wieder neu/um.

Die Gespräche, deren aktiver Zeuge und Teilnehmer der Rezipient wird, erstrecken sich von der literarischen Welt auf Unterhaltungen mit Künstlern, mit historischen Figuren aller Bereiche oder finden stellvertretend zwischen imaginären Dritten statt.[55]

Eingangs mit Eco schon angedeutet[56], breitet sich so eine schier unendliche Menge an gültigen Interpretationsmöglichkeiten vor uns aus, ohne dass eine endgültig wäre. Eine vollständige Erschließung der gesendeten Botschaft ist eine Illusion. Aus dem miteinander Kommunizieren und einander Annähern von Sendern und Empfängern entstehen neue Signale.

Dem Werkcharakter von Beuys und Claus kommt hier das Modell der Intertextualität sehr nahe, wie es u.a. Roland Barthes vorschlägt: „Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefasst hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, dass der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“[57]

Doch trotz nicht zu übersehender Kongruenzen unterwandern beide Künstler solcherlei Modelle auch wieder: sie widersprechen einer suggerierten Beliebigkeit und kämpfen gegen einen diagnostizierten Subjektverlust an. Sie ringen um ein subjekthaftes Individuum als Basis für alle Selbstexperimente und als Voraussetzung für jegliches Kommunizieren als dem Sprechen mit einem Du, mit einem anderen. Beuys und Claus verstehen sich als aktiv gestaltende und zugleich gestaltete Partikel in diesem endlosen ‚Flechten des Gewebes’. Diesen Anspruch entwickeln sie weiter zu ihrer sozialen Utopie.

Kommunizieren als sozialutopische Praxis.

Dabei werden bestimmte Rezeptionsforderungen zentral: Die Werke appellieren an unsere Bereitschaft, sich für die Wahrnehmung der Tiefenschichten der Blätter zu sensibilisieren, das Angebot zum Erfahren des Blattes als Selbsterfahrung zu realisieren. Diese individuelle Schärfung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit ist für beide Künstler die Voraussetzung, dass kollektive gesellschaftliche Transformationen im Sinne eines humanen Ideals erst möglich werden. Hier erwarten die Künstler nicht das Unmögliche – nämlich dass ein unbekannter Zeichenvorrat angeeignet werden sollte. Sondern sie sind davon überzeugt, dass der existente Zeichenvorrat weitaus größer ist, als im konventionellen Sprechen realisiert wird.

Um Kommunizieren im weiten Sinne geht es ihnen hierbei, und nicht um die Herstellung künstlerischer oder künstlerisch verwertbarer Ergebnisse. Die Arbeiten sind jedoch auch nicht als Vorschriften zu festen Handlungen zu sehen, sondern als Modelle/Angebote, selbst daran zu arbeiten, verschüttete Zeichen wieder wachzurufen, vergessene Gespräche und Betrachtungen wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Beiden sehen in der Kreativität den Impuls zur eigenen wie zur gesellschaftlichen Entwicklung.

BEUYS: Man darf sich nicht im geringsten auf formale und stilistische Kriterien einlassen, sondern nur auf das Lebensprinzip der Sache als lebendigem Stoff.[58]
CLAUS: Die vorliegenden Sprachblätter wollen weniger ästhetische Objekte, vielmehr als Diskussionsbasen und Vorschläge zu eigenen Exerzitien benutzt werden.[59]
BEUYS: Diese unsichtbaren Formen sind nur so lange unsichtbar, so lange ich kein Auge habe, kein Organ habe, das b i l d h a f t wahrzunehmen fähig ist. Für denjenigen also, der sich ein Wahrnehmungsorgan schafft, für den sind diese Formen wahrnehmbar.[60]
CLAUS: JEDEM Menschen rieselt, quillt, sprudelt die Kraft zu schöpferischem Tun. Nur eben weit unten, unter der Wüste, die oben entstand.[61]
BEUYS: ...ich wollte immer die Menschen auch einmal ermahnen, mit ihrem Denken zu beginnen. Also, ob sie sich selbst verantworten können... Das wäre für mich doch die eigentliche kreative Aufgabe. Also, diese Fragen der ganzen kreativen Innerlichkeit, der Willenskräfte, der Empfindungskräfte, der intellektuellen Denkfähigkeit.[62]
CLAUS: Jeder kann sich für derartige Erlebnisse aufnahmefähig machen, wenn er nur versucht, sich auf das Dargebotene zu konzentrieren, das heißt, nichts anderes in sein Bewusstsein eindringen zu lassen. Man wird dann bald empfinden, wie sich der Erlebniskreis, der Erfahrungsbereich in ungeahnter Weise ausdehnt, vergrößert. Und sehr bald, wird man sich auch einen kritischen Blick aneignen für jene Dinge, die man bisher kritiklos hinnahm.[63]
BEUYS: The total economical Model: das Diagramm führt aus, dass der herkömmliche Begriff von Sozialismus zu erweitern bzw zu ersetzen ist durch Liebe, Christentum und Nichtmaterialismus.[64]
CLAUS: ...Resurrektion der Natur, des Universums auf einem kommunistisch gewordenen Stern Erde dürfte seinen Ort im menschlichen Hirn haben, das mit dem Herz als Impulskern eine Bewusstseins-Union bildet. Mensch-Natur-Maschine-Mensch-Symbiosen, eine radikal neue Technik und Industrie könnten dann realisiert werden. Die die gesamte Erde nicht nur als Lebensbasis erfassen, sondern darüber hinaus in einen komplexen Erkenntnis- und Aktionskörper des Universums verwandeln.[65]

Claus und Beuys sind der Überzeugung, dass durch genaueres Wahrnehmen, Verständigen, durch die zunehmende Ausnutzung der eigenen geistig-emotionalen Fähigkeiten Lebensprozesse immer besser zu realisieren sind. Die Möglichkeit hierzu erforschten beide Künstler exemplarisch in ihrem eigenen Oeuvre, das als Exempel oder sogenannter „Vorversuch“ (Claus) gelten kann. Denken/Sprechen/Schreiben/Zeichnen als plastisches Handeln, Kommunizieren als individuell kreativer Akt soll im Kollektiv-Gesellschaftlichen aufgehen. Die ‚künstlerische Botschaft’ – bei beiden durchaus auch mystisch-religiös konnotiert – fungiert hier als (sozial)utopisches Modell und Werkzeug, das wieder in die Nähe zu wissenschaftlichen Erkenntnismethoden und bewusstseinsverändernden Praktiken gerückt werden soll. Sprache wird „Kontaktstoff zu Natur“ (Claus) – auch zur eigenen (Abb. 8).

Der experimentelle, auf Unvorhergesehenes angelegte Charakter der Arbeiten beider Künstler legt Zukünftiges nicht fest, aber strebt ein Futurum als (Best-)Mögliches an. Ohne Teleologie kommen sie dabei nicht aus. Klaus Werner stellte die Visionen beider gegenüber: „Claus denkt an den vom Menschen ‚durchfunkelten’ Sieg der Revolution als Zutritt zur kommunistischen Kosmologie. Beuys entschied sich für die evolutionäre Umwandlung der bürgerlichen Industriegesellschaft mit der Volksabstimmung als Legislative und der Erziehung des Kapitals.“[66] Werner weist mit damit auf eine „entschiedene Andersartigkeit des Zukunftsbegriffs“ hin. Schaut man sich diese unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrundes jedoch genauer an, dann fragt man sich, ob beide im Grunde nicht dasselbe meinen. Die Begriffe Revolution (Claus) und Evolution (Beuys)[67] vermischen sich und bedingen einander. Beide träumen von einer modernen Spielart des Urkommunismus, wo Natur und Geist versöhnt sind, wo ökonomische Macht sich in Kreativität und geistiger Potenz – die Mystik und Liebe einschließt – aufgelöst hat.

BEUYS: Ich habe keinerlei Optimismus oder Pessimismus gegenüber der Zukunft, sondern ich sehe einfach Möglichkeiten.[68]
CLAUS: Meine experimentelle Existenz ist Existenz, die die Kategorie Möglichkeit erprobt.[69]

„Lebenslauf/Werklauf“ als untrennbare Einheit von Leben und Werk heißt es bei Beuys, dasselbe gilt in besonderem Maße auch für Claus. Die jeweiligen Lebenswerkläufe von der Kindheit, Jugend an über die gesellschaftlichen Existenz- und Schaffensbedingungen bis hin zur Rezeption beider Künstler sind und bleiben disparat. Der von Schülern umringte, extrovertierte und eloquente Professor und Parteigründer –– dem gegenüber der unter einem Kinosaal im erzgebirgischen Annaberg besessen arbeitende, introvertierte Eremit, der sich vor der Welt verschloss und zugleich so rege an ihr Anteil nahm - das passt irgendwie nicht zusammen.

Doch vielleicht sind die Berührungspunkte, die der Beitrag bemüht war ansatzweise aufzuzeigen, nachvollziehbar geworden: Zwei Künstler, mehr als räumlich voneinander entfernt, haben in ihrem Denken und Handeln ein Ideal umfassender Verständigung verfolgt, die Verständigungsmittel hierfür erforscht und erprobt sowie geradezu obsessiv an deren und des Ideals Verwirklichung gearbeitet. Dem Ideal konnten das Gefüge eines Kalten Krieges, einer deutsch-deutschen Teilung oder die Zeichen einer neuen Zeit mit neuen Medien und neuen Ideen nichts anhaben. In diesem Ideal begegnen Joseph Beuys und Carlfriedrich Claus einander. Indem sie durch ihr Werk den Dialog mit uns eröffnen, verwirklichen sie auch ihr Gespräch miteinander. Ein Gespräch, für das es wohl keine Zeugen gibt, die uns in konventioneller Sprache davon berichten könnten. Ein Gespräch, dessen einzige leise Spur vielleicht jenes Sprachblatt aus dem Jahr 1986 ist.

überarbeitetes Votragsmanuskript, gehalten am 04.12.2009 im Rahmen des Symposiums „Avantgarde und Geschichte im Kalten Krieg“, Deutsches Historisches Museum Berlin

Abb. 1: Carlfriedrich Claus, Erinnerung. An Joseph Beuys, 1986, Kreide schwarz und braun, 104 x 133 mm, Z 746

Abb. 2: Joseph Beuys, Joseph Beuys verlängert im Auftrag von James Joyce den Ulysses um sechs weitere Kapitel, undatiert, aus Heft 4, Bleistift

Abb. 3: Joseph Beuys, Joseph Beuys verlängert im Auftrag von James Joyce den Ulysses um sechs weitere Kapitel, undatiert, Heft 3 Bleistift, Wasserfarbe

Abb. 4: Carlfriedrich Claus, Studie zu Gedanken-Fingerbewegungen, Feder/Tusche/manuelle Verwischungen auf zweiseitig bez. Transparentpapier, 14,5 x 20,8 cm, Z 561

Abb. 5: Joseph Beuys, Joseph Beuys verlängert im Auftrag von James Joyce den Ulysses um sechs weitere Kapitel, undatiert, Heft 1, Bleistift

Abb. 6: Carlfriedrich Claus, Embryo-Blick aus Gestein; Experiment auf die Archeus-Vulkanus-Kontaktfrage hin, 1965, Feder/Tusche auf zweiseitig bez. Transparentpapier, 29,4 x 20,8 cm, Z 386

Abb. 7: Carlfriedrich Claus, Allegorische Skizze: Die Umwandlung die Lesestoff erfährt, 1963/64, Feder/Tusche zweiseitig auf Transparentpapier, 14,7 x 20,9 cm, Z 349

Abb. 8: Carlfriedrich Claus, Prozessuales Verwirklichen neuer Beziehungen zwischen Frau und Mann. II: Entfernungsunabhängiges Kommunizieren: mittels imaginativ im Herzen erzeugter und bewegter Zeichen, Aurora-Mappe, Blatt 5, 1975, Radierung, 40 x 30 cm, G 30 b1

Abbildungsnachweise:

© Carlfriedrich Claus / VG Bild-Kunst Bonn mit freundlicher Genehmigung der Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

© Joseph Beuys / VG Bild-Kunst Bonn.

Anmerkungen

[1] Alexei Krutschonych gehörte der russischen Futuristengruppe Gileas an und veröffentlichte zusammen mit Wladimir Majakowski, Dawid Burljuk und Welimir Chlebnikow 1912 das Manifest Eine Ohrfeige dem allgemeinen Geschmack. Zusammen mit Chlebnikov entwickelte er die Kunstsprache Sa-um, eine Art universale Sternen- oder auch Vogelsprache.

[2] In diesem Falle reflektierte und verurteilte Claus den Contra-Krieg in Nikaragua, der mit US-amerikanischer Unterstützung von 1981 bis 1990 gegen die Sandinisten geführt wurde.

[3] „So verstanden und im Selbstexperiment angewandt, kann man psych. Verhärtungen, Versteinerungen spalten, neue Energiequellen freilegen. Oder man entdeckt Zwischenräume, die man bisher nicht wahrnahm, übersah, die noch nicht bewusst waren; weil sie zu nahe am Rand des Augenblicks verlaufen, im – um mit Ernst Bloch zu sprechen – ‚Dunkel nächster Nähe’: Eine solche experimentelle Durchdringung von Kara-te mit mu-gen erzeugt in Zwischenräumen Zwischenzeiten und lässt jäh jene diese Blitze, Funken, Photonen spüren, von denen Ernst Bloch spricht, am Rand des Dunkels, des „Stoßes tief unten“, des Pochens. Jetzt- Nie – Jetzt – Nie – Jetzt ...“ Carlfriedrich Claus: Brief an Karola Bloch, 15.12.82, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[4] Vgl. Carlfriedrich Claus: Versuchsgebiet K. Sprachblätter. Carlfriedrich Claus im Gespräch mit Gerhard Wolf zu einigen Aspekten seiner Arbeiten seit 1991, in: Carlfriedrich Claus. Zwischen dem Einst und dem Einst, Reutlingen 1993, S. 106.

[5] Klaus Werner: Werkverzeichnis 1944-89, in: Carlfriedrich Claus/Klaus Werner: Erwachen am Augenblick, Westfalen-Lippe 1990, S. 264.

[6] An dieser Stelle danke ich dem Beuys- und Claus-Forscher Thilo Götze-Regenbogen für Recherche und freundliche Mitteilung.

[7] Klaus Staeck (Hg.): Ohne die Rose tun wir's nicht. Für Joseph Beuys, Heidelberg 1986.

[8] Zitiert nach: Ausstellung Joseph Beuys. Die Revolution sind wir, Hamburger Bahnhof. Museum für Gegenwart, Berlin 2008.

[9] Carlfriedrich Claus: Vom Tod her leben, in: Claus/Werner, 1990, S. 160.

[10] Eine Verbindung erkannte jedoch auch Eckhart Gillen: Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990, Bonn 209, S. 209.

[11] Vgl. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 1994, S. 145-165.

[12] A.a.O., S. 163.

[13] „Im Grunde sehe ich die Sprachblätter als Randgebiet der Literatur ...“ Carlfriedrich Claus: Versuchsgebiet K. Sprachblätter. Carlfriedrich Claus im Gespräch mit Gerhard Wolf zu einigen Aspekten seiner Arbeiten seit 1991, in: Claus. Zwischen dem Einst, 1993, S. 119; „Vorschlagen würde ich, auf die Bezeichnungen ‚Graphik’ und ‚Zeichnungen’ zu verzichten... eben weil ich nicht ‚zeichne’, sondern schreibe.“ Carlfriedrich Claus: Brief an Klaus Werner, 17.11.1983, Nachlass Klaus Werner, Archiv der Akademie der Künste Berlin.

[14] Carlfriedrich Claus: Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr, in: Claus/Werner, 1990, S. 105.

[15] Joseph Beuys, Reden über das eigene Land: Deutschland, München 1985, S. 34.

[16] Vgl. Anmerkungen 58f.

[17] „>Ö Ö< ist einfach die Sprache ohne Inhalt. Nur die Trägerwelle. Die Sprache ohne begriffliche Implantation eines Begriffes, also wie Tiere ihre Laute ausstoßen. Ein einfacher Ausdruck einer inneren Regung wird mit dem >ö ö<, das ja das Röhren des Hirsches ist, imitiert.“ Mario Kramer: Joseph Beuys, Kapital Raum 1970-1977, Heidelberg 1991, S. 20.

[18] In den ersten Lebensjahren wird beim menschlichen Säugling der Kehlkopf abgesenkt. Nur wenige Tiere vermögen ähnliches und können Lautfolgen wie Menschen bilden bzw. sprachliche Äußerungen nachahmen. Hierzu zählen beispielsweise Papagei, Robbe und Delphin. – Die Entstehung der Laute und der Sprache im Kehlkopfbereich hielt Beuys später in der Zeichnung aus dem Iphigenie-Set von 1974 fest, wo er in acht schematisch ausgeführten Mund- und Rachenstudien die Aussprache des Wortes Iphigenie demonstrierte (Joseph Beuys, Iphigenie-Set, 1974, Offset-Lithographie auf Papier, 21 x 29,7 cm).

[19] Titus Andronicus / Iphigenie war eine Kunstaktion bei der Experimenta 2 am 29./30.05.1969 in Frankfurt am Main. Auf einer beleuchteten Theaterbühne fraß ein lebendiger Schimmel Heu. Beuys hantierte mit Mikrophon, Zuckerstücken für das Tier und mit Margarine. Während der Aktion schepperte er mit einem Orchesterbecken und legte sich Eisenstücke auf den Kopf, rezitierte Texte aus William Shakespeares Titus Andronicus und Johann Wolfgang von Goethes Iphigenie auf Tauris. Parallel waren monotone Texte von Claus Peymann und Wolfgang Wiens als Tonbandmontagen zu hören.

[20] Götz Adriani/Winfried Konnertz/Karin Thomas, Joseph Beuys, Köln 1994, S. 105.

[21] Vgl. Manfred Müller: Versuch über die Innerlichkeit, in: Frankfurter Rundschau vom 31.05.1969, zitiert nach: Jürgen Geisenberger: Joseph Beuys und die Musik, Marburg 1999, S. 115.

[22] Z.B. die „hymnischen Gedichte mit Klangzeichen“, die geschriebenen/gesprochenen Lautstudien (1953) und Klang-Gebilde (1955) oder das Automatische Tagebuch (1956). All die Lautstudien werden von Claus bald zu akustischen Aufzeichnungen auf Tonband erweitert und korrespondieren mit den auf der Schreibmaschine entstandenen Phasen-Modellen und Letternfeldern sowie seinen schreibgestischen Kreisungen und Vibrationstexten. (Zur Biographie und Werkbiographie von Claus vgl. Brigitta Milde: Biographie, in: Schrift. Zeichen. Geste. Carlfriedrich Claus im Kontext von Klee bis Pollock, Chemnitz 2005.) Die geschriebene Sprache nennt Claus die „Zwischenwelt Schrift“, wo Sprechen und Lautung in der anderen Dimension auftauchen: in der optischen.“ Claus/Werner, 1990, S. 99.

[23] Carlfriedrich Claus: Sicht-, hörbare Phasen umfassenderer Prozesse. Notizen zu franz mon, artikulationen, in: Claus/Werner, 1990, S. 88.

[24] Vgl. Christian Scholz: Anmerkungen zum lautpoetischen Schaffen von Carlfriedrich Claus, in: Claus/Werner, 1990, S. 54.

[25] Wenn hier von Zeichnung die Rede ist, so sei bei Carlfriedrich Claus in diesem Zusammenhang auch die Druckgrafik gemeint.

[26] „Schrift hat sich aus dem Bild heraus entwickelt, von ihm mehr und mehr emanzipiert, - dieses aber war: Schrift. Vor-Schrift. Magische Wunsch-Schrift.“ Carlfriedrich Claus: Notizen zwischen der experimentellen Arbeit – zu ihr, in: Claus/Werner, 1990, S. 95.

[27] Carlfriedrich Claus: zwischen-bemerkungen, in: Claus/Werner, 1990, S. 128.

[28] Joseph Beuys in einem Gespräch mit Amine Haase, in: Amine Haase: Gespräche mit Künstlern, Köln, o.J., S. 30.

[29] Carlfriedrich Claus: Tagebuch 2.10.1961, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[30] Joseph Beuys: Bleistiftzeichnungen aus den Jahren 1946-1964, Frankfurt am Main u.a. 1973, S. 17.

[31] Vgl. z.B. Katalog zur Ausstellung „Ich bin interessiert an Transformation, Veränderung, Revolution“ – Joseph Beuys: Zeichnungen, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 2006.

[32] Zitiert nach: Christel Raussmüller-Sauer (Hg.): Joseph Beuys und das Kapital, Schaffhausen 1988, S. 79.

[33] Carlfriedrich Claus: Protokoll zum Vortrag von Werner Schmidt. Mitschriften der Kommentare von Claus nach dem Vortrag, Magdeburg 1968, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[34] Joseph Beuys. Zeichnungen und Objekte, Bremerhaven 1978, zitiert nach: Sabine Fabo: Parallelprozeß Literatur: Joseph Beuys’ Zeichnungen zum Ulysses, in: Kunstforum International, Bd. 140, 1998, S. 84.

[35] Carlfriedrich Claus: zwischen-bemerkungen, in: Claus/Werner, 1990, S. 128.

[36] Zur „Influenz des Beschreibstoffes“ bzw. zu „materialen Eigen-Signalen“ vgl. ebd. S. 95 und 103-107. Vgl. ebenso Anmerkungen 18, 51 und Eco, 1994, S. 148.

[37] Carlfriedrich Claus: zwischen-bemerkungen, in: Claus/Werner, 1990, S. 128.

[38] Michael Brix/Annegret Künzer: Bestimmung der Nichtbestimmung. Die Funktion der Zeichnung bei Leonardo und Beuys, in: Michael Brix (Hg.): Beuys und Leonardo, München/Berlin 1999, S. 18.

[39] Carlfriedrich Claus: Tagebuch, 27.9.61, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[40] „Starting point für alle Experimentreihen [...] war : Konzentration auf einen kurzen Satz, [...] auf ein Wort [...], auf eine Silbe [...], auf einen Buchstaben [...] Das hieß zunächst : Verzicht auf frei assoziierendes oder affektiv-expressives oder automatisches Schreiben. Denn diese Schreibmethoden –zu der Erkenntnis kam ich damals- führen zu unvermittelten Strukturen bzw. Strukturzwängen, eben weil die Dialektik im Schreibvorgang unreflektiert bleibt, sozusagen überflogen wird.“ Carlfriedrich Claus: Manuskript, 17.01.1983, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[41] Z.B. Paracelsische Denklandschaft: Das Archeus-Vulkanus-Kontaktproblem, 1964, Feder/Tusche schwarz/rot auf zweiseitig bez. Transparentpapier, 10,5 x 14,6 cm, Z 371; Aurora, Blatt 6: Prozessuales Verwirklichen neuer Beziehungen zwischen Frau und Mann. III: Aktiver psychischer Energieaustausch; Einwirken in das Tätigsein, 1976, Radierung (Kaltnadel, Ätzung auf Klischeeplatte), Platte: H, 20 x 15 cm, G 31; Nach der Schlacht bei Frankenhausen, nach Thomas Müntzers Tod; die Idee aber der kommunistischen Revolution lebt weiter, 1966, Feder/Tusche blau auf zweiseitig bez. Transparentpapier, 20,8 x 14,3 cm, Z 414; Eulenspiegel-Reflex, 1964/65, Feder/Pinsel/Tusche auf zweiseitig bet. Seidenpapier, 29,8 x 21 cm, Z 379.

[42] „Vielmehr heißt der Anschlußgrund des Inneren, worin der Wille steht, bei Paracelsus der ‚Archeus’, das ist: gleichsam Subjekt der Natur im Menschen. Archeus ist das wirkende Bild, nach dem der organische Stoff bei der Zeugung sich zusammenschließt, er wohnt im Samen, durchdringt, belebt und erhält nachher den Körper; jeder Wille und jede Imagination aber steht im ‚Archeus’, hat nur im Einklang mit ihm ihre Macht und des weiteren nur im Einklang mit der allgemeinen kosmischen Naturkraft, die Paracelsus ‚Vulcanus’ nennt.“ Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Band 2, Frankfurt am Main 1973, S. 799f.

[43] Carlfriedrich Claus: Tagebuch, 30.04.1965, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[44] Carlfriedrich Claus: Brief an Ernst Bloch, 03.07.1965, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[45] Carlfriedrich Claus: Tagebuch, 27.12.1965, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv. Vgl. z.B. auch Aurora, Blatt 6: Prozessuales Verwirklichen neuer Beziehungen zwischen Frau und Mann. III: Aktiver psychischer Energieaustausch; Einwirken in das Tätigsein, 1976, Radierung (Kaltnadel, Ätzung auf Klischeeplatte), Platte: H, 20 x 15 cm, G 31, Abb. 8.

[46] Zu empfehlen sei in diesem Zusammenhang der lesenswerte Aufsatz von Sabine Fabo: Parallelprozeß Literatur: Joseph Beuys’ Zeichnungen zum Ulysses, in: Kunstforum International, Bd. 140, 1998, S. 84-93.

[47] Joseph Beuys: Wenn sich keiner meldet, zeichne ich nicht. Gespräch zwischen Joseph Beuys, Heiner Bastian und Jeannot Simmen, in: Katalog Joseph Beuys. Zeichnungen/Tekeningen/Drawings, Rotterdam u.a. 1979/80, S. 40.

[48] Er referiert kapitelweise verschiedene Stufen der englischen Sprache, vom Altsächsischen bis hin zur seinerzeit aktuellen Umgangssprache.

[49] Joyce ist einer der ersten Autoren, der die Methode des so genannten „stream of consciousness“ als zentrales Gestaltungselement eines literarischen Werkes benutzt. Gedanken mehrerer Personen überlagern sich, Straßengeräusche dringen kurz ins Bewusstsein ein oder bleiben an dessen Schwelle stehen. Ereignisse, die sich gleichzeitig an verschiedenen Orten Dublins abspielen, durchdringen sich, stehen nebeneinander oder verschwimmen zu einer Impression.

[50] „Jeder künstlerische (und bei genauerem Hinsehen auch jeder nicht-künstlerische) Text ist nämlich als semiotischer Dialog angelegt, er lebt von der Spannung zwischen Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung, von der wechselseitigen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit seiner Sprachen und Sinngehalte. Gerade die Illustration enthüllt die einem solchen Prozeß zugrunde liegenden sinnbildenden Mechanismen. [...] ‚Und je weiter die Sprachen voneinander entfernt sind, je schwieriger, ‚unmöglicher’ der Dialog ist, je ‚unübersetzbarer’ die Sprachen sind, zwischen denen der Text eine Korrespondenz herstellt, desto aktiver ist der Prozeß der Sinnbildung.“ Juri M. Lotman: Die grafische Folge. Erzählung und Gegenerzählung, in: figura3. Zyklen, Dresden 1982, S. 15.

[51] „Sprache ist materiell, denn sie benutzt die eigene Körperlichkeit. Sie transportiert sich zwischen Sender und Empfänger mittels Schallwellen.“ Joseph Beuys in: Abenduntermalung, Dokumente Nr. 1, Achberg 1977, S. 6; „Unter informationstheoretischem Aspekt ist das Sprach-Experimentblatt (the speech-sheet) derjenige Teil einer Kommunikationskette zwischen Sender und Empfänger, den man als ‚Kanal’ bezeichnet; materielles Medium, das Signale überträgt. Und zwar (wie Buch, Magnetophonband, Schallplatte, Lochstreifen, Film) ‚zeitlicher Kanal’ - : vom Sender werden zur Zeit t1 Signale im Kanal-Eingang erzeugt; der Empfänger kann sie zur Zeit t2 dem Kanal-Ausgang entnehmen. Der ‚zeitliche Kanal’ speichert die in ihm erzeugten Signale. Informationelle Kopplungen sind jedoch nur dann möglich, wenn der Empfänger die aus dem Kanal-Ausgang kommenden Signale als Informationsträger erkennt und dekodiert.“ Carlfriedrich Claus: Notizen, ein Blatt betreffend. (Z 517), Manuskript, 1968, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[52] Z.B. Secret Block for secret Person of Ireland (1955) oder Beuys’ Zeichnungen zu den 1965 wieder entdeckten Skizzenbüchern Codices Madrid von Leonardo da Vinci (1965).

[53] Zu nennen seien hier das Geschichtsphilosophische Kombinat (1963), Aurora (1977), Aggregat K (1988) mit mehr als 10 Einzelblättern sowie mehrere Mikro-Kombinate.

[54] Z.B. Joseph Beuys, Drachenland lebt noch, 1958, 5 Blätter/Tinte/Wasserfarben/Bleistift montiert auf weißen Karton, 76,5 x 52,8 cm oder Iphigenie-Set, 1974, Offset-Lithographie auf Papier, 21 x 29,7 cm oder eben die Zeichnungen zum Ulysses (1958-61).

[55] Vgl. Anmerkungen 41 und 52.

[56] Vgl. S. 2.

[57] Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt am Main 1984, S. 94.

[58] Joseph Beuys: Wenn sich keiner meldet, zeichne ich nicht. Gespräch zwischen Joseph Beuys, Heiner Bastian und Jeannot Simmen, in: Katalog Joseph Beuys, Rotterdam u.a. 1979/80, S. 40.

[59] Carlfriedrich Claus: Manuskript, Januar 1976, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[60] Michael Brix/Annegret Künzer: Bestimmung der Nichtbestimmung. Die Funktion der Zeichnung bei Leonardo und Beuys, in: Brix, 1999, S. 18.

[61] Carlfriedrich Claus: zu G 26-38, Manuskript, 1976, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[62] Joseph Beuys im Gespräch mit Louwrin Wijers, Düsseldorf, 3. Juni 1980, zitiert nach: www.beuys.org/o_beuys/04.htm (zuletzt aufgerufen am 24.08.2010).

[63] Carlfriedrich Claus: Klangtexte. Schriftbilder, in: Claus/Werner, 1990, S. 85.

[64] Michael Brix/Birgit Koch: „Weiterentwickeln...“ Ein Versuch, das Multiple von Beuys zu lesen, in: Brix, 1999, S. 46.

[65] Carlfriedrich Claus: Bemerkung zu Z 459, Manuskript, o.J. (ca. 1968), Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

[66] Klaus Werner: Werkverzeichnis 1944-89. Bemerkung zu Z 746, in: Claus/Werner, 1991, S. 264.

[67] „Beuys unterscheidet eine Geschichte der Ereignisse von einer Geschichte des Bewußtseins [...] Letztere nennt Beuys Evolution.“ Michael Brix/Armin Mühsam: „... und ich stelle mir vor, wie Leonardo heute Technologie zeichnen würde...“ Leonardos Schlüsselrolle im evolutionären Weltbild von Beuys, in: Brix, 1999, S. 27.

[68] Zitiert nach: Ausstellung Joseph Beuys. Die Revolution sind wir, Hamburger Bahnhof. Museum für Gegenwart, Berlin 2008.

[69] Carlfriedrich Claus: Tagebuch, 30.09.1965, Kunstsammlungen Chemnitz. Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv.

Quelle: Anke Paula Böttcher: ÖÖ - entfernungsunabhängig kommunizieren. Zum erweiterten Sprachbegriff bei Joseph Beuys und Carlfriedrich Claus. Überarbeitetes Votragsmanuskript, gehalten am 04.12.2009 im Rahmen des Symposiums „Avantgarde und Geschichte im Kalten Krieg“, Deutsches Historisches Museum Berlin. 2010.

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